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Serienmörder im Grenzgebiet

Das "Phantom von Kehl" verbreitete vor 20 Jahren in der Ortenau Angst und Schrecken

Es war eine dunkle Zeit, düster, angsteinflößend. Ein Serienmörder verbreitete vor 20 Jahren Angst und Schrecken in Kehl. 20 Monate sollte es dauern, bis das „Phantom von Kehl“ gefasst und enttarnt war – die Polizei hatte den Grenzgänger zuvor bereits mehrfach im Visier gehabt.

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Das Phantom von Kehl: Spurensuche in einem Waldstück Foto: Peter Heck

Beim "Phantom von Kehl" handelte es sich um einen ehemaligen Soldat aus der französischen Überseeinsel Guadeloupe, der nur aufflog, weil er vor einen Straßburger Supermarkt mit einem Samurai-Schwert herumgefuchtelt hatte.

Die Polizei hatte den Grenzgänger zuvor bereits mehrfach im Visier gehabt – doch eine falsche DNA-Spur, ein irreführendes Phantombild und wohl auch schieres Pech sorgten immer wieder dafür, dass sich der bei seiner Festnahme 28 Jahre alte Mann der wohl größten Fahndung in der Geschichte des Ortenaukreises entziehen konnte.

Zusammenarbeit der Ermittler führte zum Ziel

Letztlich lag es auch an der Zusammenarbeit der Ermittler aus Deutschland und Frankreich, dass der auf beiden Seiten der Grenze agierende Jacques Plumain für zwei Morde und eine schwere Körperverletzung verurteilt werden konnte. Doch es blieben und bleiben Fragen – zum Beispiel die, ob er nicht noch mehr Opfer auf dem Gewissen hat als vor dem Colmarer Kassationsgericht im April 2006 festgestellt.

In Kehl lebt man mit der schalen Erinnerung an eine Zeit, da die Angst vor dem praktisch aus dem Nichts kommenden Mörder das öffentliche Leben zu lähmen drohte – vor allem im Winter des Jahres 1999, als in kurzer Folge zwei Frauen ermordet und eine weitere schwer verletzt worden waren. „Da haben die Leute richtig Angst gekriegt“, erinnert sich der damalige Oberbürgermeister Günther Petry. Er war erst ein Jahr im Amt als die Straftaten begannen: „Das darf man nicht unterschätzen, es war ein Wetter wie jetzt gerade, lange neblige Nächte, dunkle Morgen, und es waren alles Taten die im Dunkeln geschehen sind“.

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Bis zu 60 Beamte gehörten der SoKo "Kinzigalee" an. Foto: Peter Heck

Letztlich blieb der Stadt wenig zu tun – man ließ die Straßenlaternen an und erlaubte Mitarbeiterinnen, später zum Dienst zu erschienen. Hilflosigkeit, Verzweiflung, und später das Entsetzen über Details der Mordserie, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen. So hat der Täter, der in einem Kehler Nachtclub ein und aus ging, selbst Frauen nach Hause gefahren und gewartet bis sie sicher in der Wohnung sind – nach seinen ersten Taten. „Perverser Weise“, sagt Petry. Sehr eloquent sei der Mann aufgetreten, sollen später französische Ermittler aus Vernehmungen berichten, mit der Fähigkeit, sich praktisch aus allem herauszureden.

Angst und Schrecken in Kehl

Es beginnt am 11. Oktober 1999, als eine 22 Jahre alte Altenpflegerin in den frühen Morgenstunden auf dem Gelände einer Seniorenwohnanlage aufgefunden wird, teilweise entkleidet und mit schwersten Kopfverletzungen. Einen Tag später stirbt die junge Frau, die Polizei bildet eine Ermittlungsgruppe. Als am 23. November 1999 eine 39jährige gegen 4.30 Uhr auf dem Weg zur Arbeit angegriffen wird, denkt Ermittlungsführer Lutz Schneider erstmals an einen Serientäter. Die Frau schreit um Hilfe, es rettet ihr wohl das Leben.

Am 4. Dezember 1999 dann der dritte Fall in Kehl, der Angriff auf eine 66 Jahre alte Zeitungsträgerin. Die Attacke zeugt von inzwischen extremer Brutalität, die Rechtsmediziner zählen 16 Messerstiche im Körper des Opfers. Auch diese Frau ist teilweise entkleidet, und damit ist klar, was man zuvor schon befürchtete: Da ist ein Serientäter unterwegs.

Fast ein halbes Jahr lang werden danach keine Angriffe mehr gemeldet, bis am 16. Mai 2000 eine 44 Jahre alte deutsche Lehrerin bei La Wantzenau im Elsass mit mehreren Messerstichen getötet wird. Details der Tat deuten auch hier auf das Kehler Phantom hin. Der Mann sucht seine Opfer nun also auf beiden Seiten der Grenze – vielleicht auch, weil die Polizei Nacht für Nacht in Kehl unterwegs ist und jeden Passanten kontrolliert.

Immer wieder führen Ermittlungen in die falsche Richtung

Die Ermittler ziehen alle Register – und sie irren mehrfach, wie es in der Natur der Sache liegt. So werden erstmals Profiler eingesetzt, doch ihre Erkenntnisse führen ebenso in die falsche Richtung wie das Phantombild, das über Monate hinweg durch die Medien geistert. Bald gibt es falsche Verdächtigungen, ein Ehepaar nimmt sich nach einer Rufmordkampagne gegen einen Kehler Bürger das Leben. Und dann sind da weitere Fälle, die zunächst dem „Phantom“ zugeschrieben werden – der gewaltsame Tod einer Französin vor den Kehler Fällen, ein ungeklärter Angriff auf eine Radfahrerin in Kehl im Dezember 2000. Es bleiben Rätsel, die auch die Polizei in ihrer aufwendigen Ermittlungsarbeit nicht auflösen wird.

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Angst und Schecken: Monatelang patrouillierten nachts zivile Beamte durch Kehl. Foto: Michael Heuberger

60 Beamte - 10.000 Spuren

Zehn Millionen Mark hat die Suche nach dem Serientäter den deutschen Steuerzahler gekostet, die bis zu 60 Beamte starke Sonderkommission hat mehr als 10.000 Spuren zusammengetragen, darunter 3.700 Speichelproben bei Kehler Männern, übrigens auch bei dem späteren Täter. Allein: Die an einem Opfer gefundene Hautschuppe, die zum Vergleich herangezogen wurde, stammte gar nicht vom Kehler „Phantom“. Ein Fall der, würde man ihn verfilmen, in der Summe seiner Zufälle wohl von der Kritik als unglaubwürdig in der Luft zerrissen wurde.

Was bleibt, sind wichtige Ansätze für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Polizei und Justiz. Die steckte vor 20 Jahren in den Kinderschuhen, das gemeinsame Zentrum von Polizei und Zoll in Offenburg war gerade im Aufbau, die beiden Justizsysteme praktisch inkompatibel, da Aufgaben und Verantwortlichkeiten völlig unterschiedlich verteilt waren (und sind).

Wegweisende Polizeiarbeit über die Grenze hinweg

Man raufte sich zusammen – die Rekonstruktion der Kehler Taten durch Ermittler von beiden Rheinseiten im Januar 2002 war damals wegweisend. Inzwischen pflegen die Staatsanwaltschaften in Offenburg und Straßburg den regelmäßigen Austausch, die Polizei geht gemeinsam Streife, der kurze Draht über die Grenze hinweg ist inzwischen Standard. Damals noch undenkbar, da stritt man sich über Kleinigkeiten. Die Franzosen hätten einmal nur deshalb einen Termin abgesagt, weil er damit zu früh an die Öffentlichkeit gegangen sei, sagt der damalige Polizeisprecher Emil Roth. Doch man habe gelernt, miteinander umzugehen: „Es ist etwas daraus erwachsen“.

Jacques Plumain wurde in erster Instanz zu 30 Jahren Haft verurteilt, das Colmarer Kassationsgericht korrigierte dies auf lebenslänglich mit 20 Jahren Sicherungsverwahrung. Er könne, so hieß es auf Nachfrage bei der Straßburger Justiz, 20 Jahre nach Beginn seiner Untersuchungshaft erstmals einen Antrag auf Haftentlassung stellen.

Das wäre Anfang 2021.

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