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Teure Agenda 2030

Klinikreform im Ortenaukreis kann bis zu 1,3 Milliarden Euro kosten

Muss die erst vor wenigen Monaten beschlossene Klinikreform im Ortenaukreis noch einmal überdacht werden? Der Kreistag war bei seinem Votum für die Neuordnung von Kosten in Höhe von 504 Millionen Euro ausgegangen. Nach jüngsten Berechnungen könnten es bis zu 1,3 Milliarden werden.

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Weitere Mehrkosten nicht ausgeschlossen: Auf bis zu 1,3 Milliarden Euro taxiert Landrat Frank Scherer inzwischen die Klinikreform im Ortenaukreis. Der Kreistagsbeschluss basiert auf Kostenschätzungen von 504 Millionen Euro. Foto: Landratsamt Offenburg

Muss die Agenda 2030 zur Reform der Krankenhauslandschaft neu gedacht werden? Landrat Frank Scherer spricht im Interview mit ABB-Redakteur Frank Löhnig inzwischen von bis zu 1,3 Milliarden Euro Gesamtkosten für Neubau und Sanierung der Klinikstandorte – und bringt damit nach den vor wenigen Tagen genannten 720 Millionen Euro noch einmal eine völlig andere Größenordnung ins Spiel.

Sind die am  Donnerstag verkündeten 720 Millionen Euro für die Agenda 2030 bereits eine abschließende Kostenschätzung? Mit welchen Maximalkosten rechnen Sie für das Gesamtprojekt inklusive aller Nebenaufwendungen?

Frank Scherer: Soweit man das heute über zehn Jahre hinweg beurteilen kann, gehen wir von keinen weiteren Kostensteigerungen aus, die ihren Grund in der Konzeption der Agenda 2030 selbst finden. Klar ist aber, dass der Baukostenindex jedes Jahr steigen wird und noch hinzugerechnet werden muss. Zudem hängt die endgültige Investitionssumme auch davon ab, welche Entscheidungen die Kreisgremien in den noch offenen Fragen treffen werden: Gesamtsanierung in Lahr? Bauen wir nichtklinische Nutzungen wie Parkhäuser, Wohnheime, Kindergärten und Ärztehäuser selbst? Wenn die Politik dies alles mit ja beantworten würde und man dann noch die Baukostensteigerungen der nächsten zehn Jahre sowie den von den Planern zurecht vorgeschlagenen Sicherheitspuffer von 15 Prozent veranschlagt, dann lägen wir im Jahr 2030 wahrscheinlich um die 1,3 Milliarden Euro.

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Protest gegen die Klinikreform im Frühjahr 2018 - inzwischen können sich die Kritiker angesichts explodierender Kosten bestätigt fühlen. Foto: Löhnig

Wie soll das finanziert werden – der Kreis hat ja bislang nur ein Konzept für die ursprünglich genannten 500 Millionen Euro vorgelegt – und auch entsprechend Rücklagen gebildet. Ist mit einer Erhöhung der Kreisumlage wegen der Kliniken zu rechnen?

Scherer: Wir werden in den nächsten Wochen denkbare Finanzierungsmodelle erarbeiten, über die unsere Kreisgremien zu entscheiden haben. Dabei ist natürlich auch wichtig, mit welcher Förderung wir rechnen können.

Der Kreis hat sich bislang geweigert, dem Klinikum über die abzuarbeitenden Investitionskostenzuschüsse und sehr begrenzte Beiträge zum laufenden Defizit hinaus Mittel aus dem Kernhaushalt zur Verfügung zu stellen. Dies war auch ein zentrales Argument für die Klinikreform – da man ansonsten dauerhaft den laufenden Betrieb hätte mitfinanzieren müssen. Ist dieser Standpunkt aus Sicht von bis zu 1,3 Milliarden Euro Gesamtkosten noch haltbar?

Scherer: Das stimmt nicht, die finanzielle Frage war eben gerade nicht das zentrale Argument für die Klinikreform, sondern die Qualität und Sicherheit der stationären Versorgung. Nur die Reformgegner haben uns das immer unterstellt. Wer heute noch daran zweifelt, das unser Weg im Interesse der Patienten der richtige ist, dem empfehle ich nur als eine unter vielen Expertisen zu diesem Thema die aktuell erschienene Studie der Bertelsmann Stiftung „Zukunftsfähige Krankenhausversorgung“ zu lesen oder sich den am 15. Juli von der ARD ausgestrahlten Beitrag „Krankenhäuser schließen - Leben retten?“ in der Mediathek anzusehen. Dennoch war und ist die Finanzierbarkeit unserer Reform natürlich ein wichtiges Thema, über das der Kreistag zu beraten haben wird. Insoweit möchte ich nochmals betonen, dass das Gesamtinvestitionsvolumen letztlich auch ganz wesentlich davon abhängt, welche Entscheidungen der Kreistag in Bezug auf den Standort Lahr und die Investitionen in nichtklinische Nutzungen trifft. Grundsätzlich gilt für mich aber, dass der Ortenaukreis ein starker Kreis ist, der in einem gewissen Ausmaß Investitionen in die Krankenhäuser für seine Bevölkerung leisten kann und sollte – davon bin ich fest überzeugt. Wer das anders sieht, der redet einer Privatisierung das Wort, für die weder ich noch die überwältigende Mehrheit der Kreistagsmitglieder zur Verfügung steht.

Wie hoch ist der erwartete Beitrag Dritter?

Scherer: Wir gehen aktuell von einer Förderung von rund 50 Prozent der Gesamtkosten im klinischen Bereich aus.

Werden sich durch die erwarteten Mehrkosten Verzögerungen bei der Umsetzung der Agenda 2030 ergeben?

Scherer: Dafür gibt es im Moment keine Anhaltspunkte und ich lege großen Wert darauf, den Zeitplan einzuhalten, sowohl aus medizinischen Gründen als auch mit Blick auf die Tatsache, dass jede Verzögerung Millionen kosten würde.

Kreis und Klinikum haben bislang umfassend, offen und offensiv über die Agenda 2030 informiert – unter anderem in zahlreichen Pressegesprächen. Warum wurde die Nachricht von den gravierenden Mehrkosten per Pressemitteilung am Abend verkündet – ohne dass die Medien hätten Nachfragen stellen können – und ohne Ankündigung, was dann ein Kreisrat besorgen musste. Dem Vernehmen nach wurde er später auch noch für seine Indiskretion gerügt.

Scherer: Um rechtzeitig bis Ende Juni die für unsere Förderung aus dem Strukturfonds erforderliche Projektskizze beim Land einreichen zu können, haben unsere Fachplaner in den letzten Monaten und bis kurz vor dem Abgabetermin hart arbeiten müssen. Es muss doch möglich sein, die allein zu diesem Zweck erstellten Berechnungen zunächst dem entscheidenden Gremium in einer nichtöffentlichen Sitzung vorzustellen und das Gremium darüber beraten zu lassen und erst nach einer weiteren Konkretisierung in einer öffentlichen Sitzung darüber zu diskutieren und die Öffentlichkeit zu informieren. Aufgrund der von Ihnen angesprochenen Indiskretion haben wir uns zu einer Pressemeldung entschieden, ohne noch die Möglichkeit zu einem erläuternden Pressegespräch zu haben. Ich kann Ihnen versichern, dass wir weiterhin offen und offensiv, aber eben auch verantwortungsvoll kommunizieren werden. Dazu gehört für mich eine ordentliche und verständliche Aufbereitung der Sachlage und keine hektische Reaktion auf skandalisierende Durchstechereien, die nur das Ziel haben, in der Öffentlichkeit Stimmung gegen die Reform und für die eigene Position zu machen.

Wie war die Reaktion des Ausschusses für Gesundheit und Kliniken – gibt es noch eine Mehrheit für die Klinikreform?

Scherer: Den Grundsatzbeschluss der Agenda hat niemand wirklich angezweifelt, aber natürlich gab und gibt es vor allem von Reformgegnern eine Reihe von Fragen, die beantwortet werden.

Das Kommunalrecht schreibt vor, dass Beschlüsse nur bei Vorliegen wesentlicher neuer Gesichtspunkte noch einmal neu gefasst und geändert werden können. Wären die nun bekannten Mehrkosten ein solcher neuer Gesichtspunkt? Rechnen Sie damit, dass der neue Kreistag nun das Gesamtpaket nochmals in Frage stellt?

Scherer: Aus meiner Sicht ist die nun vorliegende, erste fachplanerische Kostenermittlung kein Grund, die Reformbeschlüsse in Frage zu stellen, zumal die Kosten auch bei den anderen diskutierten Modellen entsprechend höher liegen und wir bei einer Beibehaltung des Status quo in zehn Jahren ein dramatisches Qualitäts- und Personalproblem hätten. Ich glaube nicht, dass nun eine Mehrheit im Kreistag sagen wird, der Kreis soll an der stationären Versorgung der Ortenauer Bevölkerung sparen und nicht die bestmögliche Versorgung sicherstellen.

Die neue Kostenschätzung umfasst nun auch die Peripherie wie Schwesternwohnheime, Personalkindergärten und Anderes. Stellt dies nicht den Kostenvergleich der Varianten Neubauten/Erhalt des Bestands grundlegend in Frage? Dort wären die Kosten für die Peripherie ja nur sehr bedingt angefallen.

Scherer: Viele der peripheren Einrichtungen müssten ohnehin erweitert, saniert oder neu gebaut werden. Wie soll das Ortenau Klinikum denn beispielsweise dem Fachkräftemangel entgegenwirken, wenn nicht durch die Ausweitung der Pflegeschulen, durch ausreichende und angemessen ausgestattete Wohnheimen, Kindertagesstätten und Betriebskindergärten?

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