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Mehr psychiatrische Notfälle bei Kindern und Jugendlichen

Offenburger Chefärztin über psychosoziale Folgen der Pandemie: „Jugendliche trifft es am härtesten“

Seit einem Jahr sind die Familien nun unter der Belastung durch die Corona-Pandemie. Reta Pelz ist seit Januar 2019 Chefärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Mediclin Klinik an der Lindenhöhe in Offenburg. Sie spricht von einer besorgniserregenden Situation für Kinder und Jugendliche.

Expertin für die Psyche: Reta Pelz ist seit Januar 2019 Chefärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Mediclin Klinik an der Lindenhöhe in Offenburg. 
Reta Pelz ist seit Januar 2019 Chefärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Mediclin Klinik an der Lindenhöhe in Offenburg.  Foto: Christine Storck

Wegen der Corona-Pandemie rund 40 Prozent mehr psychiatrische Notfälle bei Kindern und Jugendlichen, deutlichere Symptome und Wiederaufnahmen - das melden leitende Ärzte und Psychologen an der Mediclin Klinik an der Lindenhöhe in Offenburg und zeigen sich besorgt.

Unsere Mitarbeiterin Christine Storck sprach mit Reta Pelz, Chefärztin der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters, darüber, wie sich Pandemie und Lockdown gerade auf junge Menschen auswirken.

Seit einem Jahr sind Familien unter anhaltender Belastung. Was sind das für Notfälle, mit denen Sie dadurch verstärkt zu tun haben?
Pelz

Kinder und Jugendliche in akuten Krisen, die zum Beispiel Suizidabsichten äußern, aber auch Patienten, deren Probleme, etwa durch den Wegfall von Strukturen und Hilfen, schlimmer geworden sind. Das macht dann teilweise eine stationäre Aufnahme notwendig, bei akuter Suizidgefährdung auch eine Notaufnahme in den Intensivbereich. Insgesamt sehen wir eine Zunahme von Angst- und Zwangsstörungen, Depressionen, Schlafstörungen, Schulverweigerung, Essstörungen und selbstverletzendem Verhalten. Es gibt auch mehr länger anhaltende Suizidkrisen. Am härtesten trifft es Jugendliche, hier ist die Warteliste für Therapieplätze am längsten. Sie kämpfen mit dem Wegfall von allem, erleben Ängste oder fühlen sich verantwortlich, etwa für die Gesundheit von Großeltern. Gleichzeitig steigt ihr Medienkonsum, sie verlieren Tagesstruktur und vereinsamen. Aber natürlich nehmen nicht alle Schaden.

Warum kommen viele Kinder- und Jugendliche so schlecht mit den Einschränkungen zurecht?
Reta Pelz:

Psychische Probleme kommen bei Heranwachsenden häufig vor, auch ohne Corona. Jedes fünfte Kind ist betroffen, bei rund 15 Prozent wird eine Behandlung nötig. Die seit fast einem Jahr geltenden Beschränkungen sind nicht allein Ursache für den Anstieg, wirken aber wie ein Brennglas für das Entstehen von Krankheiten. Ein Jahr ist in der Entwicklung eines Heranwachsenden lang, wichtige Erfahrungen können nicht gemacht werden. In der Jugend spielt zum Beispiel die Ablösung vom Elternhaus eine große Rolle, die Autonomieentwicklung, Freunde werden immer wichtiger. Sowohl Kinder als auch Jugendliche leiden unter den Kontaktbeschränkungen, sind verunsichert und haben Ängste. Gerade auf jüngere Kinder können sich auch Ängste der Eltern übertragen.

Wie erschwert die aktuelle Situation Ihre Arbeit mit den Patienten?
Pelz

Die Klinik war schon vor der Pandemie voll, normalerweise beträgt die Wartezeit ein bis drei Monate, jetzt liegen wir bei mehr als sechs Monaten bei stationären Patienten. Aber auch Therapien dauern länger, weil es mit Maske schwieriger ist, Vertrauen aufzubauen, vor allem zu jüngeren Kindern. Hier braucht es einfach den nonverbalen Ausdruck und Nähe. Gleichwohl gibt es natürlich keine andere Möglichkeit als die Maske, um sich und andere vor einer Infektion zu schützen.

Sind das regionale Probleme?
Pelz

Nein, die Situation ist in anderen Häusern ähnlich. Eine aktuelle Studie zur psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen während der Corona-Pandemie bestätigt die besorgniserregende Situation, die wir in den Kliniken erleben. Leider wird darüber auf politischer Ebene nur wenig gesprochen. Meiner Ansicht nach werden die psychosozialen Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen nicht ausreichend berücksichtigt. Schulen, Kindergärten und Gemeinschaftseinrichtungen erfüllen ja nicht nur die intellektuellen und sozialen Grundbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen, sie haben zudem eine wichtige Schutzfunktion durch die soziale Kontrolle. Kinderschutz sollte vor wirtschaftlichen Interessen stehen. Insgesamt befürchte ich, dass sich die Situation nach dem jetzigen Lockdown noch verschärfen wird.

Inwiefern?
Pelz

Die Fälle gelangen mit Verzögerung zu uns, das war letztes Jahr nach dem Lockdown ähnlich. Je länger er diesmal dauert, desto mehr könnten es werden. Nur arbeiten wir jetzt schon an der Belastungsgrenze. Das liegt auch daran, dass wir mit 2,8 Betten pro 10.000 Einwohnern unter 18 Jahren im Vergleich zu anderen Kliniken zu wenig Möglichkeiten für unseren Einzugsbereich haben, der bei rund 125.000 Einwohnern unter 18 Jahren liegt. Der Landesschnitt liegt bei 3,6 Betten pro 10.000 Einwohnern unter 18, der Bundesschnitt sogar bei 4,7. Eigentlich bräuchten wir für den aktuellen Bedarf eine zusätzliche Station, und im ambulanten Bereich die doppelten Räumlichkeiten.

Zur Person

Reta Pelz ist seit Januar 2019 Chefärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Mediclin Klinik an der Lindenhöhe in Offenburg.

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