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Begegnungen abseits des Protokolls

Warum den Gemeinden die Neujahrsempfänge so fehlen

Neujahrsempfänge sind mehr als nur Info-Veranstaltungen, die jetzt wegen der Pandemie ausgefallen sind. Warum die Begegnungen abseits des offiziellen Protokolls so wichtig sind, erklärt Paul Witt, Professor für Kommunalpolitik.

Neujahrsempfang von Landrat Frank Scherer: Mehrere hundert Gäste waren ins Landratsamt gekommen und erfuhren dort, auf wie vielen Ebenen die Unternehmen aus der Ortenau bereits als „Global Player“ unterwegs sind. Zahlreiche Wirtschaftsvertreter waren Scherers Einladung gefolgt. 	Foto: fl
Anblick aus einer anderen Zeit: Mehrere hundert Gäste waren zum Neujahrsempfang 2019 ins Landratsamt gekommen - undenkbar in der Corona-Zeit. Foto: fl

Nicht nur Vereinsfeste, Familienfeiern oder Konzerte müssen wegen der Corona-Pandemie ausfallen: Auch die Neujahrsempfänge in den Städten und Gemeinden des Ortenaukreises können nicht stattfinden.

Viele Kommunen haben ein Alternativprogramm auf die Beine gestellt, aber auch die liebevollsten virtuellen Bemühungen können vermutlich nicht das ersetzen, was auf den Empfängen neben Rück- und Ausblicken auf das örtliche Geschehen auch im Mittelpunkt steht: persönliche Begegnungen abseits des offiziellen Protokolls.

Neujahrsempfänge sind auch identitätsstiftend.
Paul Witt, Professor für Kommunalpolitik

Man trifft sich, man redet, dazu gibt es ein Gläschen Sekt und ein Stück Neujahrsbrezel. Für Besucher und ausrichtende Kommunen sind die Neujahrsempfänge viel mehr als Info-Veranstaltungen, wo Bürgermeister, Pfarrer oder Vereinsvorstände auf Vergangenes zurückblicken oder über geplante Projekte berichten.

Empfänge fördern Verbundenheit

„Sie sind auch identitätsstiftend“, erklärt Paul Witt, Professor für Kommunalpolitik und ehemaliger Rektor an der Verwaltungshochschule Kehl, im Gespräch. Vor allem in Orten, in denen nicht nur ein ausgewählter Kreis, sondern alle Bürger eingeladen sind, führe das formelle wie informelle Zusammenkommen dazu, dass die Menschen sich mit ihrem Wohnort verbundener fühlen. „Wo sonst hat man die Möglichkeit, ganz ungezwungen mal mit seinem Bürgermeister, den Ortsvorstehern oder dem Feuerwehrkommandanten zu sprechen“, sagt Witt.

Einen konkreter Ursprung der Neujahrsempfänge sei nicht auszumachen, aber vermutlich existieren sie ungefähr seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Sie entsprechen der Tradition, sich zu Beginn eines neuen Jahres Gesundheit, Erfolg und Zufriedenheit zu wünschen. Viele Bürgermeister möchten dies ebenfalls mit ihrer Gemeinde tun. „Das funktioniert persönlich besser als per Mail oder in Briefform“, sagt Witt. Bei kaum einer anderen Veranstaltung kommen so viele unterschiedliche Menschen zusammen: Unternehmer, Vertreter von Gemeinde, Vereinen, Kirche und eben die Bürger. „So können auch mal auf dem kleinen Dienstweg Themen oder vielleicht sogar wichtige Deals angestoßen werden“, meint der Professor.

Erster Empfang in Achern war 1964

In Achern zum Beispiel kommen normalerweise jährlich in der Schloßfeldhalle rund 500 Menschen zusammen, der erste Neujahrsempfang hat nach Auskunft der Stadt 1964 stattgefunden. So wolle man den Einrichtungen, Organisationen und Institutionen für ihre Arbeit danken. In diesem Jahr fand der Empfang als Livestream statt, „eine spannende Premiere, bei der Bürger parallel an Oberbürgermeister Klaus Muttach Fragen loswerden konnten. Die Resonanz auf die Veranstaltung war sehr positiv“, so die Stadt auf Nachfrage.

„Der Neujahrsempfang bietet auch die Möglichkeit, bürgerschaftliches Engagement zu würdigen. Wir haben hier keine vergleichbaren Formate“, ergänzt Kappelrodecks Bürgermeister Stefan Hattenbach. Über die Jahre sei die Veranstaltung in der 6.000 Einwohner zählenden Gemeinde gewachsen, bis zu 150 Menschen nehmen jährlich teil. Noch bis Ende Januar sei die virtuelle Form über den Youtube-Kanal der Kommune online. Rund 600 Mal sei er bisher aufgerufen worden. „Aber die persönliche Begegnung und der Austausch sind letztlich durch nichts zu ersetzen.“

Echte Begegnungen sind digital kaum möglich.
Manuel Tabor, Bürgermeister in Appenweier

In Form eines eigens produzierten Films hat die Stadt Offenburg sich Anfang des Jahres an alle Interessierten gewandt. Darin werden Neubauprojekte wie Klinikum und Messe, Investitionen in Betreuung und Bildung, Kultur, Kreativität und Wirtschaft beleuchtet. Aber es werden auch viele Menschen unterschiedlicher Herkunft und Altersklassen porträtiert. „Er soll Identifikation schaffen und die Stadtgemeinschaft stärken“, sagt Offenburgs OB Marco Steffens. Flankiert werde der Film von der Kampagne „Offenburg l(i)ebt Dich“, deren Themen ins ganze Jahr hinein wirken sollen. Normalerweise kommen zum Neujahrsempfang zwischen 800 und 1000 Gästen, berichtet Wolfgang Reinbold, Leiter des Museums im Ritterhaus und in früherer Funktion bei der Pressestelle der Stadt einige Jahre für die Organisation zuständig.

In Kehl und Oberkirch haben sich OB Toni Vetrano und Bürgermeister Matthias Braun in Videoclips an die Bürger gewandt. Die Botschaften unterscheiden sich stark von der üblichen Neujahrsrede, dazu komme, dass Corona einen Rückblick unumgänglich und einen konkreten Ausblick schwierig macht, so die Stadt Kehl. In Appenweier hat man sich komplett gegen ein digitales Format entschieden. „Echte Begegnungen sind digital kaum möglich“, sagt Bürgermeister Manuel Tabor. Deshalb plane die Stadt eine Alternativveranstaltung im Sommer, so die Pandemie dies zulässt.

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