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Corona-Maßnahmen erschweren die Arbeit

In Renchen sind die Wartelisten der Suchtberatung voll

Wird wegen Corona mehr getrunken? Ja und Nein heißt die Antwort der Suchthelfer, die von Renchen aus den gesamten badischen Raum betrachten. Vor allem Familien mit Kindern machen ihnen Sorgen.

Ein Glas wird vor einer Ansammlung von Schnapsflaschen mit einem Obstbrand gefüllt.
Corona-Lockdown und Alkohol - eine gefährliche Mischung: Immer mehr Alkoholkranke bitten um Hilfe, auch weil der Ehe- oder Lebenspartner dies einfordert. Im Lockdown nämlich kann man dem Problem kaum ausweichen. Foto: Bernd Weißbrod / dpa

940 Mitarbeiter, mehr als 2.600 Patienten jährlich in Kliniken und Tageskliniken, Beratungsstellen von Lörrach bis nach Mannheim – der Baden-Württembergische Landesverband für Prävention und Rehabilitation (bwlv) ist einer der ganz großen Player in der Suchthilfe.

Seinen Sitz hat er in Renchen, wo er eine Klinik für alkoholkranke Menschen betreibt, auch im Corona-Jahr 2020.

Wie die Arbeit lief, welche Probleme es gab und ob, wie es landläufig heißt, „im Lockdown mehr gesoffen“ wird, darüber sprach bwlv-Geschäftsführer Oliver Kaiser mit unserem Redakteur Frank Löhnig.

Oliver Kaiser führt den Verband seit knapp einem Jahr. Er hat sein Amt praktisch mit Beginn des Corona-Lockdowns angetreten.

Kliniken, Wohnheime, Pflegeheime. Überall wo Menschen auf engem Raum zusammenleben, ist Corona eine besondere Bedrohung. Wie gehen Sie mit dem Problem um?
Oliver Kaiser

Wir sind eingestuft als Betrieb der kritischen Infrastruktur. Das heißt: Wir können nicht einfach vom Netz gehen, unsere Arbeit läuft auch während des Lockdowns weiter. Dafür haben wir ein eigenes Arbeitsschutzkonzept entwickelt, und wir sind, gemessen an der Zahl der Mitarbeiter und der Patienten, damit sehr erfolgreich. Es gibt immerhin zu jedem Zeitpunkt rund 10.000 Betroffene, die in unseren Kliniken und von Beratungsstellen betreut werden und gemessen daran sehr wenige Infektionsfälle. Corona war im Frühjahr ein unheimlicher Treber für uns, wir haben viel in die technische Infrastruktur investiert, zum Beispiel in ein eigenes System für unsere Videokonferenzen. Wir machen das datenschutzkonform mit eigener Software, hosten sie auf unseren Servern im eigenen Haus und nicht irgendwo in Irland oder den USA.

Wie läuft es in den Kliniken?
Kaiser

Die Warteliste sind voll, die Nachfrage ist enorm. Wir können aber wegen der Hygienerichtlinien nicht im Normalbetrieb arbeiten. Patienten müssen beispielsweise einen negativen Corona-Test vorlegen, die nächste Testung erfolgt dann nach Aufnahme in der Klinik. Aktuell belegen wir zudem auch nur Einzelzimmer. Auch im ambulanten Bereich ist die Nachfrage sehr hoch.

Also wird wegen Corona mehr getrunken?
Kaiser

Da spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. Klar ist: Dass die Menschen In Kurzarbeit oder im Homeoffice sind und sich deshalb viel zu Hause aufhalten, das erzeugt in den suchtbelasteten Familien einen unheimlichen Druck. Die Sucht der Betroffenen, meist Männer, die sonst an ihrem Arbeitsplatz wären, wird für alle offenkundiger. Das liegt daran, dass viele ohne Tagesstruktur und soziale Kontrolle am Arbeitsplatz schon morgens zum ersten Bier greifen. Das bekommt dann die Partnerin mit. Der Konsum wird Thema. Das erhöht bei uns die Nachfrage enorm

Sie haben da eine überraschend klare Zuordnung zu Geschlechtern formuliert. Trinken Frauen denn nicht?
Kaiser

Wir haben auch eine Frauenklinik, da gilt das Gleiche in Grün. Doch die Sucht findet bei den Frauen versteckter statt. Männer kommen über den Arbeitgeber oder die Partnerin schneller in die Lage, dass sie eine Therapie antreten müssen.

Haben Ihre Patienten denn Verständnis für die Corona-Regeln und halten sie sich dran?
Kaiser

Das hat uns positiv überrascht, es gibt da überhaupt keine Probleme. Und die Regeln sind massiv: Es muss den ganzen Tag Maske getragen werden, keine Ausflüge, Einkäufen in den Ort nur sehr eingeschränkt, keine Besuche von Zuhause. Da gibt es natürlich schon mal Spannungen, und auch die Quote der Therapieabbrüche steigt. Wir mussten wegen Corona die Heimfahrten einschränken, das hat den Klienten in unseren Kliniken gerade um Weihnachten sehr zugesetzt. Nicht jeder hat das ausgehalten.

Man hätte denken können, dass man die Patienten ohnedies von zuhause isoliert, um sie aus dem suchtgefährdenden Umfeld fern zu halten…
Kaiser

Das ist schon lange nicht mehr das Konzept. Es gibt Familienbesuche, Heimfahrten. Die Angehörigen werden in die Behandlung einbezogen. Nur mussten die jetzt wegen Corona erheblich eingeschränkt werden.

Nun hilft der bwlv ja nicht nur bei Alkoholproblemen. Wie sieht es denn mit anderen Süchten aus?
Kaiser

Im Grunde gilt bei den illegalen Drogen dasselbe wie bei Alkohol. Wenn man ständig zuhause ist, wird man wohl eher konsumieren. Das Problem ist die Isolierung, die Einsamkeit. Gerade wer alleinstehend ist, nicht arbeitet und auch die anderen sozialen Kontakte wie den Sportclub oder dergleichen verliert, für den ist das eine Katastrophe. Wir merken das auch in unseren Gruppenangeboten, die Nachfrage ist erheblich angestiegen. Die Menschen suchen nach Möglichkeiten, sich zu treffen, auszutauschen. Doch auch da müssen wir auf den Infektionsschutz achten, und zum Beispiel Gruppen teilen. Das heißt, im Umkehrschluss, mehr Arbeit und Aufwand für uns und unsere Mitarbeiter.

Viele Drogen in der Ortenau kommen aus Frankreich, vor allem aus der Großstadt Straßburg. Grenzschließungen und massive Kontrollen dürfen diese Wege aber teilweise verstopfen. Gibt es für Abhängige ein Beschaffungsproblem?
Kaiser

Das lässt sich für uns nicht so im Detail nachvollziehen. Aber wir haben schon gemerkt, dass die Nachfrage in unserer Substitutionspraxis gerade in Kehl im Frühjahr deutlich angestiegen ist.

Wie wird es weitergehen, kommt das dicke Ende erst noch nach?
Kaiser

Der Bedarf an Suchtberatung und an Behandlung wird in den kommenden Monaten deutlich ansteigen. Die Spannungen in den Familien werden zunehmen, insbesondere in Familien mit Kindern. Da müssen wir ansprechbar bleiben und Hilfe anbieten. Wir beobachten schon jetzt teils dramatische Situationen, Aggressionen und Gewalt sind mehr und mehr ein Thema. Wir haben Gruppen für Kinder, doch die mussten wir aktuell aussetzen. Unsere Mitarbeiter*innen versuchen, in Einzelgesprächen und Telefonaten so viel wie möglich aufzufangen. Das wird auch unsere Mitarbeiter belasten. Es ist sehr schwer, die richtige Balance zwischen Arbeitsschutz und der angemessenen Versorgung unserer Klientel zu finden. Und nebenbei: die Zahl der Überstunden in unseren Häusern wächst.

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