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Denkmal für ermordete Juden

Rheinau bekommt seine ersten Stolpersteine: Warum erst jetzt?

Erste Vorstöße gab es schon 2012, zehn Jahre später wird es nun wahr: Rheinau erhält jetzt die ersten Stolpersteine, die an die ermordeten Juden aus dem Ort erinnern sollen.

Ein altes Familienbild der Rheinauer Familien Hammel und Braunschweig. Für drei von Ihnen werden nun die ersten Rheinauer Stolpersteine verlegt:
Ein altes Familienbild der Rheinauer Familien Hammel und Braunschweig. Vlnr: Leo Braunschweig, Mina Braunschweig, Jean Sandor Reich, Ruth Braunschweig, Leon Reich, Malwine Braunschweig, Leon Weil, Fanny Hammel geb. Hauser, Jenny Hammel, Albert Loeb, unbekannte Frau mit Sohn und Julchen Hammel Foto: Repro: Karen Christeleit

1993 entwickelte Künstler Gunter Demnig sein Projekt Stolpersteine. 1996 legte er die ersten Stolpersteine in Deutschland, seit 2000 setzt er sein Kunstprojekt in ganz Europa um. Am Sonntag, 11. September, um 8.45 Uhr werden bei einer Feierstunde auf Initiative des Rheinauer Arbeitskreises und in Absprache mit der Stadt Rheinau sowie Angehörigen der Erinnerten aus Frankreich und Israel auch in Freistett die ersten drei Stolpersteine in der Hauptstraße 21 und der Rheinstraße 5 verlegt.

„Wir möchten ein deutliches Zeichen setzen, denn Toleranz und Mitmenschlichkeit müssen an die Stelle von nationalen Egozentrismus treten“, betont Mitinitiator Gerd Hirschberg. Er befasst sich in Rheinau intensiv mit der Geschichte der ehemaligen jüdischen Gemeinden in Freistett und Rheinbischofsheim und setzt sich für die sichtbare Erinnerungsarbeit vor Ort ein. „Wir würden uns freuen, wenn viele, die das genau so sehen, zur Feierstunde kommen.“

Demnig legt kleine quadratische Messingplatten auf Betonquadern in den Gehweg vor dem letzten frei gewählten Wohnsitz von Menschen, die von den Nationalsozialisten ausgegrenzt, verfolgt und ermordet wurden. Das betrifft alle, die wegen sogenannter „Rassenzugehörigkeit“ oder wegen ihrer politischen oder religiösen Überzeugung verfolgt wurden. Dazu gehören auch Deserteure, Menschen mit damals unerwünschter sexueller Orientierung, geistig und körperlich Behinderte und Angehörige aller anderen Gruppen, denen die Gleichwertigkeit mit dem sogenannten „Deutschen Volk“ abgesprochen wurde.

Nach dem Krieg wollten die Rheinauer die Vergangenheit ruhen lassen

Demnig will, dass diese Opfer nicht vergessen werden. „Die Vorbeigehenden sollen innerlich stolpern und durch das Heruntersehen auf die Messingplatten in einer Art Verbeugung der Opfer gedenken“, erklärt der Psychologe Hirschberg. Er recherchierte die Entstehungsgeschichte der beiden Gemeinden, die Lebensumstände der jüdischen Einwohner ebenso wie ihre tragischen Schicksale in der NS-Zeit, indem er die vorliegenden Dokumente sichtete und Informationen von Zeitzeugen und Verfolgten sammelte.

Einer davon war Ernst Braunschweig. Als 16-Jähriger wurde er in der Pogromnacht 1938 mit seinem Vater verhaftet. Doch aufgrund seines Alters entging er der Deportation. Er floh mit seinen Brüdern Hans und Franz nach Frankreich. Sein Vater Leo Braunschweig, Tabakwarenvertreter und Mitglied des Neufreistetter Bürgerausschusses, wurde ins Konzentrationslager Dachau verschleppt. Er wurde wieder freigelassen. Doch 1941 starb er im französischen Exil an den Folgen der widerfahrenen Misshandlungen.

Während der deutschen Besatzung im französischen Untergrund versteckt, kam Ernst Braunschweig bereits als Soldat der Siegermächte in die Heimat zurück. Auch später besuchte er hier in Freundschaft seine alten Klassenkameraden. „Er wollte damals schon Erinnerungssteine setzen lassen, doch er merkte rasch, dass die Leute ringsrum nicht erinnert, sondern vielmehr die Vergangenheit ruhen lassen wollten“, berichtet Hirschberg.

2011 schien die Zeit noch nicht reif für Stolpersteine in Rheinau

Von der Idee begeistert, begann er seinerseits zu intervenieren. 2011 machte er eine Liste aller von den Nazis ermordeten ehemaligen Freistetter Einwohner und 2012 unternahm die Rheinauer SPD erste Vorstöße im Gemeinderat zur Verlegung von Stolpersteinen.

„Aber die Initiative verlief im Sand, die Zeit war einfach noch nicht reif dafür“, bedauert der Historiker. „Doch 2021 war es dann endlich soweit.“ Die Französin Carole Reich stellte in Erinnerung für ihre Tanten Jenny und Julchen Hammel bei der Stadt Rheinau den Antrag, zwei Stolpersteine vor deren letztem Wohnhaus in der Rheinstraße 5 zu verlegen. Beide hatten in Freistett einst in der Rheinstraße ein Kaufhaus betrieben und wurden zuerst nach Gurs deportiert und von dort weiter zur Vernichtung nach Auschwitz gebracht.

„Endlich kam Bewegung in die Angelegenheit“, freut sich Hirschberg. „Es war wichtig und richtig, den Entscheidungsträgern wichtige Informationen an die Hand zu geben und letztlich lief ich bei allen Fraktionen offene Türen ein.“ Die Verwaltung sprach sich in Übereinstimmung mit allen Fraktionen des Gemeinderates für die Verlegung von Stolpersteinen aus.

Im Anschluss bildete sich im Juli 2021 der „Arbeitskreis Stolpersteine Rheinau“ als Untergruppe des Historischen Vereins und machte es sich zur Aufgabe, das Rheinauer Stolpersteinprojekt zu verwirklichen: die Beantragung, Organisation und Begleitung beim Verlegen von Stolpersteinen in Rheinau.

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