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Von der Pillenthrombose und der Lungenembolie wird für immer eine Narbe bleiben.

Pillengeschädigte aus der Ortenau im Interview

„Versuche, das Beste aus dem Leben danach zu machen“: Wie die Antibabypille ein Leben zerriss

Felicitas Rohrer aus Willstätt im Ortenaukreis war 25 Jahre alt, als sie fast an einer beidseitigen Lungenembolie gestorben wäre. Noch elf Jahre später spürt sie die Folgen.
7 Minuten
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Felicitas Rohrer nahm wie Millionen andere Frauen in Deutschland die Antibabypille. Sie stand am Anfang ihrer Karriere, war sportlich und gesund, als sie plötzlich zusammenbrach und fast gestorben wäre. Sie verklagt deswegen den Pharmakonzern Bayer. Vor dem Landgericht Waldshut-Tiengen hat sie verloren, nun geht sie in Berufung am Oberlandesgericht Karlsruhe.

Der Rechtsstreit mit Bayer belastet Felicitas Rohrer seit vielen Jahren.
Der Rechtsstreit mit Bayer belastet Felicitas Rohrer seit vielen Jahren. Foto: Andrea Fabry

Im Interview erzählt sie von ihrer Lungenembolie, dem Rechtsstreit gegen Bayer und den Folgen für den Rest ihres Lebens.

Wie war Ihr Leben vor der Pillenthrombose im Jahr 2009?
Felicitas Rohrer

Ich war am Ende meines Tiermedizinstudiums und habe mich auf den letzten Teil des Staatsexamens vorbereitet. Ich habe zu dem Zeitpunkt viele Leute aus der Abistufe wieder getroffen, wir sind abends oft weggegangen, um vom Lernstress wegzukommen. Dann habe ich an einem Abend meinen damaligen Freund kennengelernt, mich hat also in der Prüfungszeit auch noch die Liebe erwischt. Das war alles richtig schön.

Sie wollten Tierärztin werden?
Rohrer

Ja, schon als Kindergartenkind. Ich habe mich während der Gymnasiumszeit darauf vorbereitet, den naturwissenschaftlichen Zweig genommen, noch das kleine Latinum abgelegt. Ich habe ein sehr gutes Abi gemacht, um Tiermedizin studieren zu können. Dann habe ich das Staatsexamen auch bestanden, war endlich Tierärztin, bin mit meinem Freund in den Urlaub gefahren und habe mich auf die Suche nach einem Job begeben. Und überlegt, dass ich noch ein zweijähriges Studium dranhängen könnte, weil ich noch sehr jung war.

Auf dem Weg zu einem Sprachtest für dieses Studium sind Sie dann zusammengebrochen und kamen in die Notaufnahme. Wie erinnern Sie sich an den 11. Juli 2009?
Rohrer

Dieser Tag hat sich eingebrannt. In der Uniklinik in Freiburg ging es darum, mich am Leben zu halten. Nach der beidseitigen Lungenembolie mit Herzstillstand war überhaupt nicht klar, ob das klappt. Ich bin wirklich zwischen Leben und Tod geschwebt. Das wird nie etwas sein, das ich vergessen kann oder was auch nur verblassen wird. Manchmal sage ich einfach „ok, ich hab’s überlebt und ich werd’s mit Freude überleben und packe dieses zweite Leben an und mache das Beste draus“. Und manchmal ist es unheimlich schwierig, weil man weiß, wie es davor war: dass man einen unversehrten Körper hatte, dass man keine Narben hatte, dass man sich nicht die ganzen Sorgen machen musste. Die posttraumatische Belastungsstörung, die Angst vor dem Tod, die Depressionen, die damit kamen – das ist etwas, das man nie vergisst.

War Ihnen direkt klar, dass Ihre Thrombose und die dadurch verursachte Lungenembolie von der Pille gekommen sein müssen?
Rohrer

Auf der Intensivstation ging es erst einmal nur darum, mich am Leben zu halten. Aber im Hintergrund haben die Ärzte schon ganz früh begonnen, nach der Ursache zu forschen. Weil es für sie auch unerklärlich war: Eine 25-jährige junge Frau, scheinbar ohne sonstige Erkrankungen, Nichtraucher, nicht übergewichtig. Warum bekommt so jemand aus heiterem Himmel eine beidseitige Lungenembolie? Ich wurde durchgetestet auf Autoimmunerkrankungen, auf exotische Erkrankungen. Im Ausschlussverfahren blieb nur die Pilleneinnahme übrig. Daraufhin hat sich meine Familie hingesetzt und recherchiert. Sie kamen darauf, dass es schon Todesfälle gegeben hatte, dass das Arzneimitteltelegramm vor der Einnahme dieser Pille gewarnt hatte. Dann war es auch für die Ärzte klar.

Wieso hatten Sie sich für die Pille als Verhütungsmittel entschieden?
Rohrer

Ich habe die Pille zum ersten Mal eingenommen, zuvor hatte ich noch nie hormonell verhütet. Das war auch mein allererstes Beratungsgespräch mit der Frauenärztin. Ich bin hingegangen und wollte mich einfach erst mal informieren, was es für Möglichkeiten gibt. Es wurde mir nur eine hormonelle Verhütungsmethode empfohlen, andere Verhütungsmethoden wurden überhaupt nicht angesprochen. Und es wurde gleich gesagt, ich als Erstanwenderin würde besonders gut auf die Yasminelle ansprechen, das wäre ein sehr neues Präparat und besonders für mich als Erstanwenderin richtig gut verträglich. Mir wurden keine anderen Pillen als Vergleich vorgestellt. Schon in der Praxis wurde mir die erste Yasminelle-Packung umsonst mitgegeben – also bevor ich überhaupt das Rezept hatte, bevor ich überhaupt in der Apotheke war. Es wurde nicht auf das erhöhte Thromboserisiko hingewiesen, obwohl das auch damals Ärzten und Fachärzten schon bekannt war. Das heißt, das war ein absolut unzureichendes Aufklärungsgespräch, bei dem mir als unerfahrene Erstanwenderin gar keine andere Möglichkeit gelassen wurde, als diese Pille zu nehmen.

Welche psychischen und körperlichen Schäden haben Sie davongetragen?
Rohrer

Als Tierärztin kann ich nicht mehr arbeiten. Meine damalige sehr schöne Beziehung ist später zerbrochen. Ich habe keinen gesunden Körper mehr, kann nicht mehr die Sportarten machen, die ich möchte. Ich soll nur noch Walken anstatt Joggen. Ich habe große Probleme mit dem immer wärmer werdenden Sommer, weil ich dann Atemprobleme bekomme, weil durch das Lymphödem mein Bein anschwillt und ich wieder Kompressionsstrümpfe tragen muss. Mein gesundheitlicher Zustand wird nie wieder so wie vorher. Ich kann nur gucken, dass es nicht schlimmer wird. Und so eine posttraumatische Belastungsstörung ist nichts, was man einfach diagnostiziert bekommt und es ist vor allem nichts, was man einfach wieder weg bekommt. Die damit einhergehenden Depressionen waren zeitweise unheimlich schlimm. Und diese Angst vor dem Tod, die jetzt herrscht, die Angst vor der Dunkelheit, und dass ich nicht in Räumen sein kann, in denen kein Fenster geöffnet ist. Dass ich Panikattacken bekomme. Das kriegt man nie wieder weg.

Deswegen verklagen Sie Bayer auf Schmerzensgeld und Schadenersatz?
Rohrer

Auch, wenn sich das wie eine Plattitüde anhört: Aber was interessiert mich das Geld, das mir Bayer geben würde? Das ist für die ein Griff in die Portokasse, darum geht’s mir nicht. Kein Geld der Welt kann gut machen, dass ich für den Rest meines Lebens einen kaputten Körper habe. Es geht einfach um Gerechtigkeit, auch wenn sich das platt anhört. Es muss möglich sein, ein Gerichtsurteil zu bekommen, Gerechtigkeit für mich und für all die anderen Frauen, die keine Möglichkeit haben, juristisch zu kämpfen.

Wie kam die Entscheidung zustande, vor Gericht zu ziehen?
Rohrer

Schon in der Rehazeit habe ich festgestellt: Ich kann kein Einzelfall sein, bei der Menge wie die Pillen der Yasminfamilie verschrieben wurden. Tatsächlich hat sich eine andere Betroffene bei mir gemeldet, sie hatte schon einen Anwalt eingeschaltet. Er hat gesagt, dass wir gegen Bayer vorgehen könnten, weil die Firma nicht richtig gehandelt hat. Sie haben das erhöhte Risiko nicht im Beipackzettel erwähnt. Sie hätten diese Pille überhaupt nicht auf den Markt bringen dürfen, weil das Risiko unverhältnismäßig hoch ist. Wir haben mit Bayer Kontakt aufgenommen, die haben aber einfach dicht gemacht und versucht, das Ganze tot zu schweigen. Nachdem keinerlei Annäherung möglich war, haben wir beschlossen, den juristischen Weg zu gehen.

Wie haben Sie die Verhandlungstermine vor dem Landgericht Waldshut-Tiengen erlebt?
Rohrer

Man wirft mir immer vor, dass ich so emotional sei. Ganz ehrlich, wie könnte ich nicht emotional sein, in einem Prozess, in dem es um meinen Körper und um mein Leben geht? Da wird mir vorgeworfen, dass ich zu dumm sei, den Beipackzettel zu lesen, obwohl im Beipackzettel das erhöhte Thromboserisiko ja gar nicht erwähnt war. Mir wird vorgeworfen, dass ich die Pille nicht indikationsgemäß eingenommen hätte, und dass das nur eine emotional geführte Sache sei. Das regt mich unheimlich auf: Dass ich emotional bin heißt nicht, dass ich nicht Recht habe. Das heißt nicht, dass die Fakten nicht stimmen. Und das ist natürlich schwierig vor Gericht. Ich habe ein Problem damit, dem Anwalt von Bayer die Hand zu geben, was ich aber trotzdem machen muss. Ich habe ein Problem damit, ruhig sitzen bleiben zu können, wenn persönliche Attacken gegen mich gefahren werden oder wenn Unwahrheiten kommen. Mich belastet das unheimlich. Dabei bin ich ja gar nicht auf der Anklagebank, dennoch habe ich das Gefühl, mich laufend erklären und verteidigen zu müssen. Beim letzten Mal hat die Richterin den Prozesstag unterbrochen, weil ich ganz blass wurde. Für alle anderen geht es einfach nur um einen Fall, aber für mich geht es um meinen Körper, meine Gesundheit.

Sie haben den Prozess vor dem Landgericht verloren und gehen jetzt in Berufung. Wie schätzen Sie Ihre Chancen ein?
Rohrer

Das Problem ist, dass das ein absoluter Beispielprozess ist. Es ist der erste Prozess gegen Bayer in der Richtung. Es ist der erste Prozess, der die Antibabypille betrifft. Das heißt, die Richter konnten sich an nichts orientieren. Tatsächlich glaube ich, dass das Landgericht seine Entscheidung vorschnell getroffen hat und nicht unter Berücksichtigung aller Fakten. Ich denke, das Landgericht wollte, dass dieser Fall in andere Hände kommt. Mein Anwalt sagt, dass das Urteil juristische gravierende Fehler enthält und das Landgericht wichtige Sachen unberücksichtigt gelassen hat. Daher gehen wir mit vollster Überzeugung in den Berufungsprozess.

Sie haben mit der Initiative risiko-pille.de zahlreiche andere Fälle gesammelt. Glauben Sie, dass das Bewusstsein für das Thromboserisiko von Verhütungspillen dadurch gewachsen ist?
Rohrer

Viele junge Frauen wenden sich mit Fragen an uns, die eigentlich die Frauenärzte beantworten sollten. Wir merken, dass der Bedarf an Aufklärung unheimlich groß ist. Das Thema kommt in der breiten Öffentlichkeit immer mehr an. Wobei die Frauenärzte ein ganz schwieriges Feld sind: Viele sagen immer noch „je neuer ein Präparat, desto sicherer“. Das trifft grade bei den Antibabypillen nicht zu. Hier sind die Pillen der zweiten Generation die sichersten. Da sind viele Frauenärzte nicht auf dem Stand der Wissenschaft oder negieren sogar die Erkenntnisse der Wissenschaft. Aber generell kann man sagen, es hat sich was getan. Immer mehr junge Frauen möchten gar nicht mehr hormonell verhüten. Trotzdem gibt es noch viel zu tun.

Wie verbreitet sind Pillenschäden Ihrer Meinung nach?
Rohrer

Uns erreichen täglich Mails von Betroffenen. Das Bundesinistut für Arzneimittel und Medizinprodukte geht davon aus, dass die Dunkelziffer an Betroffenen zehnfach höher ist als die bekannten Fälle. Weil eben viele nicht darüber reden oder ihre Symptome nicht mit der Pille in Zusammenhang bringen. Es gibt immer noch viele Hausärzte, die diese Symptome als Hysterie abstempeln, die sagen „du musst dich nur mal wieder richtig ausruhen“. Es gibt Hausärzte, die in der Anamnese nicht nach der Verhütungsmethode fragen, sodass vielen jungen Frauen nicht bewusst ist, dass ihre Symptome von der Pille her kommen könnten. Und natürlich bei Todesfällen: Gerade bei Lungenembolien stirbt man im schlimmsten Fall innerhalb weniger Minuten oder Sekunden. Da ist vielen Familienangehörigen nicht klar, was genau passiert ist. Daher ist es ganz schwer, eine offizielle Zahl zu nennen.

Was würden Sie jungen Frauen raten, wenn es um die Frage der Verhütungsmethode geht?
Rohrer

Junge Frauen sollen sich gut informieren und auch Zweitmeinungen einholen. Und immer daran denken, dass das, was der Frauenarzt sagt, nicht unbedingt der aktuellen Lehrmeinung entspricht. Man sollte sich auch fragen: Muss es wirklich die Pille sein? Es ist absolut möglich, heutzutage sicher nicht-hormonell zu verhüten. Und wenn es unbedingt eine Pille sein muss, dann doch bitte eine der zweiten Generation, die vergleichsweise das geringste Thromboserisiko haben. Es geht darum, über das zu entscheiden, was in den eigenen Körper reinkommt, und da sollte man sich nicht auf eine einzige Meinung verlassen.

Wie geht es Ihnen heute, wenn Sie an den 11. Juli 2009 zurückdenken?
Rohrer

Jedes Jahr begehe ich meinen zweiten Geburtstag an dem Tag. Allerdings immer alleine, weil es für mich ein sehr belastender Tag ist. Weil ich auch nie weiß, was an diesem Tag überwiegt: die Freude darüber, überlebt zu haben, oder die Trauer über das verlorene Leben und die ganzen Schmerzen und die Konsequenzen, die darauf gefolgt sind. Das ist ein sehr schwieriger Tag für mich, den ich aber besonders intensiv begehe. Ich gehe raus, genieße die frische Luft, gehe in kaltem Wasser schwimmen, und versuche wirklich die Sinne auszutesten, um das Leben richtig zu spüren. Denn es hat sich alles verändert. Vor dem 11. Juli 2009 gab es ein Leben davor und jetzt gibt es ein Leben danach. Ich versuche einfach, das Beste aus dem Leben danach zu machen.

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