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Zeitzeugen Autobiografie

Die Mutter wollte keine Nazi-Uniform nähen: Ein 95-jähriger Rastatter erinnert sich an die Kindheit im Dritten Reich

Er ist einer der wenigen Zeitzeugen, die heute noch vom Alltag im Nationalsozialismus berichten können: Hermann Stimmler aus Rastatt. Er hat die Geschichte seiner Kindheit und seiner Indoktrination in einem Buch verarbeitet.

Generationen-Projekt: Hermann Stimmler (95) aus Rastatt hat ein Autobiografie über seine Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus geschrieben. Sein Enkel Moritz Schottmüller (27) hat das Buch gestaltet.
Hermann Stimmler (95) aus Rastatt hat eine Autobiografie über seine Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus geschrieben. Sein Enkel Moritz Schottmüller (27) hat das Buch gestaltet. Foto: Markus Koch

Der Riss geht im Dritten Reich mitten durch die Familie Stimmler. Der Vater ist ein begeisterter Nationalsozialist und Parteifunktionär. Die Mutter hasst Hitler. Sie ist Schneiderin – aber sie will ihrem kleinen Sohn Hermann auf keinen Fall die braune Uniform nähen, die er sich so sehnsüchtig wünscht. Da geht der Grundschüler auf eigene Faust ins Rastatter Stoffhaus Happle und ordert „Stoff für ein Braunhemd“.

Ob die Mutter denn Bescheid wisse, fragt der Ladenbesitzer. „Ja“, lügt daraufhin der siebenjährige Steppke – und fügt hinzu: „Wenn sie mir kein Hitlerjugendhemd näht, kommt sie ins KZ nach Kislau.“

Diese bedrückende Szene hat der heute 95-jährige Hermann Stimmler erst im hohen Alter niedergeschrieben – in seinem autobiografischen Buch mit dem Titel „Hochmut. Meine Kindheit und Jugend im Dritten Reich“. Voriges Jahr ist es in der Pandemie-Hochphase erschienen, an diesem Donnerstag wird es im Rastatter Stadtmuseum erstmals bei einer Lesung öffentlich vorgestellt.

Ungefilterte Wahrheit aus Kinderaugen

Ungeschminkt schildert Stimmler in seinen Erinnerungen, wie er schon im zarten Alter dem Reiz der Nazi-Propaganda erliegt. Der Spruch über das KZ Kislau spricht aber auch Bände über das oft verdrängte Wissen der Normalbevölkerung. „Selbst uns Kindern war damals bewusst, dass politisch unerwünschte Personen in Konzentrationslagern inhaftiert waren und zur Zwangsarbeit gezwungen wurden“, schreibt Stimmler rückblickend.

Ich habe meinen Großvater nochmal neu kennengelernt.
Moritz Schottmüller, Enkel des Autors und Buch-Designer

Lebenslang beschäftigt es ihn, dass er ein Rädchen in Hitlers Diktatur-Maschinerie war, wenn auch nur ein kleines – zunächst als Fähnleinführer beim „Jungvolk“, später als Soldat im Teenager-Alter. Jahrelang hat Stimmler all das Erlebte für sein Buch aufgearbeitet. Sein Enkel Moritz Schottmüller hat ihn intensiv begleitet.

Der 27-Jährige studierte Kommunikationsdesign an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Als Diplom-Arbeit hat er das Buch des Großvaters gestaltet – und dabei auch alte Tagebuchaufzeichnungen, Notizen und Kritzeleien so in den Buchdruck übertragen, dass die Handschrift Stimmlers sichtbar bleibt. „Ich habe meinen Großvater nochmal neu kennengelernt“, sagt Schottmüller über dieses Generationenprojekt.

„Warum hast du da mitgemacht?“ – diese Frage hat der Enkel öfter gestellt. Er hat das Gefühl, der Großvater konnte sich ihm eher öffnen als den eigenen Kindern. „Die 68er-Generation hat diese Frage nach dem Warum ja sehr vorwurfsvoll gestellt“, sagt Schottmüller. Eine Antwort, die ihm Stimmler gegeben hat, lautet: „Wir wurden zum Hochmut erzogen.“ Deshalb der Titel des Buches.

Der Lehrling begegnet hungernden KZ-Häftlingen aus Niederbühl

Der Autor erzählt auch von Begegnungen mit KZ-Häftlingen aus dem Lager Niederbühl. Sie müssen in der Waggonfabrik Rastatt schuften. Stimmler macht dort ab 1941 eine Lehre zum Technischen Zeichner. Als der Jugendliche sieht, wie einer dieser KZ-Häftlinge Essensreste aus einem Abfalleimer klaubt, denkt er: „Niemals würde ich mich so erniedrigen, eher würde ich sterben.“ Doch das Leben lehrt ihn anderes. „Achtzehn Monate nach diesem Erlebnis tat ich als Kriegsgefangener im Lager Rennes das Gleiche“, schreibt Stimmler in seinen Erinnerungen.

„Aus einem Abfalleimer hinter der Küchenbaracke stahl ich verschimmelte, stinkende Essensabfälle, kochte sie in einer Blechdose ab, schöpfte den Schimmel, der sich in allen Farben zeigte, ab und teilte das Ergebnis mit Freunden. Mein Hochmut war gebrochen.“

Fälle von Sippenhaft bei den Jungvolk-Pimpfen

Doch lange lässt sich der junge Stimmler von Hitlers Heilsversprechen blenden. Wettkämpfe, Militärspiele und Lagerromantik begeistern den begabten Sportler. Auch zum Segelfliegen kommt er damals über die Fliegergruppe der Hitlerjugend. Mit 16 Jahren möchte er schon freiwillig zur Luftwaffe.

Hermann Stimmler (hinten) leitete einen Ausflug mit den Kindern des nationalsozialistischen Jungvolks auf den Schliffkopf.
Mit den „Pimpfen“ im Schwarzwald: Hermann Stimmler (hinten) leitete einen Ausflug mit den Kindern des nationalsozialistischen Jungvolks auf den Schliffkopf. Foto: Privat

Beim Jungvolk darf der junge Hermann 120 „Pimpfe“ kommandieren. Doch seine Begeisterung bekommt auch Dämpfer. Zum Beispiel, als ein netter kleiner Junge nicht befördert wird, da sein Vater vorbestraft ist. Als Stimmler seiner Mutter bedrückt davon erzählt, meint sie: „Typisch Nazi, Sippenhaft.“ Das gibt dem Sohn zu denken. Viele solcher Alltagserlebnisse hat der Rastatter Autor zusammengetragen. Er erzählt auch von Wechselbädern der Gefühle: Mal feiert die Familie fröhlich. Dann steht sie vor dem ausgebombten Wohnhaus.

Den 18. Geburtstag feiert der junge Soldat in einem Heuschober

Als das Land schon in Auflösung ist, wird der 17-jährige Stimmler im Herbst 1944 eingezogen. Er hofft immer noch auf Hitlers „Wunderwaffen“. Seinen 18. Geburtstag feiert er im März 1945 in einem Heuschober – bei einer Dose Ölsardinen. Kurz danach soll seine Einheit in der Eifel gegen die vorrückenden Amerikaner kämpfen. Die sind hoffnungslos überlegen. „Trotzdem bildeten wir uns ein, dass wir sie mit unseren Panzerfäusten, von denen wir kaum wussten, wie sie funktionierten, abwehren konnten“, schreibt Stimmler. Das Ganze endet in einer wenig heldenhaften Flucht.

Seine Gefangennahme rettet ihm vermutlich das Leben. Im „Hungerlager“ im französischen Rennes magert der junge Mann jedoch auf 40 Kilogramm ab. Viele Mitgefangene sterben. Stimmler erinnert sich an einen Toten, unter dessen Uniform es von Ungeziefer wimmelte: „Dieses Szenario läuft bis zum heutigen Tag wie ein Film vor meinem inneren Auge ab.“

Termin der Lesung

Am Donnerstag, 2. Juni 2022, um 18 Uhr beginnt die Lesung im Stadtmuseum Rastatt in Anwesenheit des Autors.

Hermann Stimmler: Hochmut. Meine Kindheit und Jugend im Dritten Reich, 331 Seiten, 2021, 24 Euro. Erschienen im Selbstverlag, erhältlich im Stadtmuseum Rastatt oder per Mail unter: books@i-s-b-n.net.

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