Es hat viel erlebt, das Segelschiff mit der Kennung „Maria HF 31“. Der aus Hamburg-Finkenwerder stammende Kutter wurde 1881 erbaut und fuhr 70 Jahre zur See. Heute steht er im Deutschen Museum in München. Die Maria HF 31 wurde als ältestes erhaltenes Segelschiff zum Star, das die hehre Vergangenheit der Seefahrer symbolisiert. Sie avancierte zum beliebten Motiv. Neben Büchern über ihre Geschichte gibt es Gemälde, Holzbaukästen, Miniatur-Modelle und Kacheln nach Delfter Art.
So eine weiß-blaue Kachel im holländischen Landhausstil hat Manuel Sachse in einer Schublade in seiner Hamburger Wohnung liegen. Vermutlich stammt sie aus den 40er oder 50er Jahren. Es ist ein Erbstück, das ihn an seine verstorbenen Großeltern erinnert.
Doppelgänger in Rastatt entdeckt
Doch es ist nicht die einzige Kachel, die den Fischewer Maria HF 31 mit gehissten Segeln bei bewölktem Himmel vor dem Felsen „Lange Anna“ vor Helgoland zeigt. 650 Kilometer und sieben Autostunden entfernt von seiner Hamburger Heimat entdeckte Manuel Sachse sie, die Geschwister-Kachel in der Pagodenburg in Rastatt. Der 33-Jährige half gerade seinem Vater, dem Kuppenheimer Künstler Paul Sachse, dessen Ausstellung in dem knapp 300 Jahre alten Pavillon vorzubereiten. Da fiel sein Blick auf eine der Kacheln auf der rechten Seite im Eingangsbereich.
Sie ist cremefarben und nicht weiß wie seine eigene, und das Blau der Zeichnung ist intensiver. Doch es besteht kein Zweifel: Es ist die gleiche Kachel, abgesehen von drei klitzekleinen Unterschieden. Auf Sachses Kachel gibt es zwei zusätzliche Wolken und die Wolke unterhalb des Schiffsmastes ist dicker.
Im Keller oder in einem Schrank hat Sachse die Kachel nach dem Tod seines Großvaters bei der Haushaltsauflösung gefunden. Die Geschwister-Kachel in der Pagodenburg weckt Erinnerungen. Zurück in Hamburg begibt sich Sachse auf Spurensuche in der Familiengeschichte.
Auch Verwandte von Sachse ließen ihr Leben auf der See
Die Kachel an sich ist nicht wertvoll. Sie hat einen rein ideellen Wert. Es ist das Motiv des Finkenwerder Kutters, das ihn an seine Verwandten mütterlicherseits denken lässt. Auf solchen Kuttern sind sie zur See gefahren. Es war ein raues Leben, geprägt von Wind, Wellen und dem Tod.
Im Norden von Finkenwerder hingen alle Berufe vom Fischfang ab: Netz- und Segelmacher, Schuster, die die Seestiefel herstellten, Schiffer, Fischer. Für ein eigenes Schiff haben sich viele Familien hoch verschuldet. „Die Insel Finkenwerder wurde damals Witweninsel genannt, weil so viele Ehemänner, Söhne und Brüder auf See geblieben sind. Fast jede Familie hat einen Angehörigen an die See verloren“, erzählt Manuel Sachse.
Die Insel Finkenwerder wurde damals Witweninsel genannt, weil so viele Ehemänner, Söhne und Brüder auf See geblieben sind.Manuel Sachse
Auch seinen Ururgroßvater Jacob Emanuel Cohrs behielt die See. Mit gerade einmal 36 Jahren trat er 1904 seine letzte Fahrt an. Auf den Tag genau 13 Jahre später verlor seine Frau Margaretha dann noch ihren einzigen Sohn. „Sie wollte nicht, dass er zur See fährt. Aber das hat nicht geklappt. Er wollte auch und ist dann auf See geblieben“, erzählt Sachse. Der Schicksalsschlag der Cohrs berührte den Schriftsteller Gorch Fock, einen Freund der Familie, derart, dass er ein Theaterstück darüber schrieb.
Kacheln vermutlich nach dem Brand 1954 eingesetzt
Entdeckt hat Manuel Sachse die Kachel mit dem Segelboot zwar schon 2015. Damals besaß er seine Kachel allerdings noch nicht. „Vor einigen Wochen fiel sie mir dann beim Durchstöbern wieder in die Hand. Da fiel mir ein, irgendwo hatte ich die doch gesehen, wo sie eigentlich nicht hinpasst.“ Er suchte das Foto von der Ausstellung heraus: „Da habe ich gesehen, dass es wirklich das gleiche Motiv ist.“ In der Pagodenburg gibt es sogar gleich mehrere Kacheln mit der Maria HF 31.
Doch wie kommt es, dass Segelboote durch das Rastatter Lustschlösschen segeln? Selbst die Experten der Staatlichen Schlösser und Gärten Baden-Württemberg können sich darauf keinen Reim machen. Petra Pechaček, verantwortlich für den Bereich Sammlungen und Vermittlung, vermutet, dass Fehlstellen an den Wänden mit Kacheln geschlossen wurden, die jenen aus dem 18. Jahrhundert glichen. Es kann demnach gut sein, dass die Bootskacheln 1954 in das pfirsichfarbene Gebäude schipperten.
Denn am 2. April schlug um 5 Uhr die wohl dunkelste und heißeste Stunde des markgräflichen Schlösschens. Das historische Gebäude brannte lichterloh. In der BNN-Ausgabe vom 3. April 1954 heißt es dazu: „Die 16 Feuerwehrleute arbeiteten mit dem Mut der Verzweiflung, um das Gebäude wenigstens vor der völligen Zerstörung zu bewahren. Wie nach einem Bombenangriff sah es nach dem Brand in den Innenräumen der Pagodenburg aus.“ Heute strahlt sie wieder, die Pagodenburg, umgeben von leuchtend-grünem Rasen und Blumenrabatten. Doch woher die Segelboot-Kacheln kamen und wie sie ihren Weg in den Pavillon der Markgräfin Sibylla Augusta fanden, bleibt am Ende wohl ihr Geheimnis.