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Hierarchie und Schikane

Früherer christlicher Internatsschüler in Rastatt: „Es hat vielen Leuten die Seele zerfetzt“

Er sollte Abitur machen und Priester werden: Doch die Zeit im christlichen Internat in Rastatt hat Bernhard Frey (67) bis heute gebrochen. Der frühere Geistliche aus Karlsruhe erklärt, warum er bis heute nicht mit Gefühlen umgehen kann. Die Erzdiözese Freiburg möchte den Fall prüfen.

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Das Theaterspiel gehörte auch zum Leben im erzbischöflichen Studienheim. Bernhard Frey (r.) spielt in der Aufnahme von 1967 einen Richter. Heute spricht Frey nach seinen Erfahrungen in der Einrichtung aber von einem Gefangenenlager. Foto: pr
Er sollte Abitur machen und Priester werden: Doch die Zeit im christlichen Internat hat Bernhard Frey (67) bis heute gebrochen. Der frühere Geistliche aus Karlsruhe erklärt, warum er bis heute nicht mit Gefühlen umgehen kann.

Bernhard Frey hat auf der falschen Beerdigung geweint. Seine Mutter war schon vor Jahren auf dem Fahrrad von einem betrunkenen Autofahrer erfasst worden und gestorben. Richtig trauern konnte Frey nicht. Erst viel später, als er als Priester eine Trauerrede hielt, musste er plötzlich weinen.

„Die Tränen hätten bei der Beerdigung meiner Mutter kommen müssen“, sagt der 67-Jährige. Doch der Karlsruher tut sich schwer, Gefühle zu empfinden.

Es hat vielen Leuten die Seele zerfetzt
Bernhard Frey, ehemaliger Internatsschüler

Frey führt das auf seine Zeit im erzbischöflichen Studienheim Rastatt zurück. Dort landete er 1963 als Zehnjähriger wie viele Kinder vom Dorf im Internat, um sein Abitur machen zu können. Achte Jahre lang war er dort. „Es war ein Gefangenenlager“, sagt Frey.

„Im Nachhinein hat es vielen Leuten die Seele zerfetzt.“ Die jungen Menschen sollten unter christlicher Anleitung ihr Abitur absolvieren und im besten Fall Priester werden. Über 400 Priester gingen daraus hervor, wie das Haus St. Bernhard berichtet.

Es war ein Gefangenenlager.
Bernhard Frey, ehemaliger Internatsschüler

Auch Frey war Priester – bis er vor über 20 Jahren den Dienst quittierte, um mit einer Frau eine Familie zu gründen. Seine Zeit in Rastatt hat er aber zu keinem Zeitpunkt vergessen: „Als Priester habe ich gemerkt, dass ich seelisch kaputt bin – später auch meiner Frau gegenüber.“

Es waren acht Jahre, die das Leben von Frey aus der Spur brachten. Mit 20 anderen Schülern aus Mittelbaden wohnte er im Internat und besuchte das Ludwig-Wilhelm-Gymnasium. Bis er 18 Jahre alt wurde, sah er seine Eltern nur in den Ferien. „Es war ein Gefangenenlager.“

Schikane war die Tagesordnung

Ein Internat ist ein Internat. Doch der Umgang dort beeinflusst ihn bis heute, sagt Frey. „Es gab keine Freiheit, wir durften praktisch nichts.“ Alles sei auf Überwachung ausgelegt gewesen. „Unser Chef, ein Pfarrer, hatte Stalingrad überlebt. Er war kein schlechter Mensch, aber er war im System gefangen.“ Die Schüler seien dazu erzogen worden, sich unterzuordnen und keine Gefühle zu zeigen.

Doch Emotionen hätten die Kinder und Jugendlichen aber auch so abgespeichert, sagt Frey. „Die Abwertung durch eine Ohrfeige spürt man nach langer Zeit noch.“ Wer mal zu spät kam, sei zum Chef zitiert worden. „Du musstest funktionieren. Das System basierte auf Angst.“

Während der Einrichtungsleiter mit Rauswurf drohte, schikanierten Schüler aus der Oberstufe die Neuankömmlinge. Wer einem Älteren auf dem Gang begegnete, musste eine Kniebeuge machen. Nach einem Mal Abhören der Vokabeln hatte Frey 170 Tatzen „gutgeschrieben“.

Daumen im Schraubstock und Todesangst

Streiche wurden bestraft. „Sollte es bei einer Ohrfeige bleiben, waren wir glücklich“, hielt Frey in seinem Tagebuch fest. „Aber meistens sollte es noch viel schlimmer kommen.“

Ein Keller, ein paar Oberstufen-Schüler, der Schüler mit Daumen im Schraubstock, der Bunsenbrenner nähert sich Gesicht, Schenkeln und Gesäß. Frey schrieb: „Es verschaffte sichtlich Genugtuung, wenn wir von der Flamme zu Tod geängstigt ein Kriegsgeschrei ausstießen.“

Irgendwann habe er erkannt: „Wenn du ruhig bist, kommst du durch. Ich habe ganz viele Gefühle in den Hintergrund gedrängt.“

Doch der Glaube bedeute ihm viel, sagt Frey. Also studierte er Theologie, wurde Priester. Die Gläubigen erlebten einen zuvorkommenden Geistlichen. „Aber innerlich war ich der Missbrauchte.“ Als ihn nach dem Gottesdienst ein Besucher für die Predigt lobte, empfand Frey nichts. „Ich glaube Lob gar nicht. Ich war schon sehr kaputt in meinen Gefühlen.“

In mir ist sehr viel Kälte
Bernhard Frey, ehemaliger Internatsschüler

Als Pfarrer hätten ihm die Gläubigen schlimmste Dinge anvertraut. „Ich konnte das gut bewältigen, weil ich keine Gefühle hatte.“ Auch bei dramatischen eigenen Erlebnissen blieb Frey einfach ruhig und dachte logisch.

Mitte 30 geriet er in eine Lebenskrise. „Es waren schwere Jahre, die mich fast in die Verzweiflung getrieben haben.“ Frey lernte eine Frau kennen, gab sein Priesteramt auf. Doch er blieb auch als Familienvater der gleiche Mensch. „In mir ist sehr viel Kälte und eine ungute Art, etwas auszudrücken.“

Manchmal fragt ihn seine Frau, was er gerade fühlt. „Sie muss mir dann helfen, das fällt mir bis heute schwer.“

Klassentreffen? Frühere Mitschüler winken ab

Frey spricht auch mit früheren Mitschülern. Einer, ein pensionierter Arzt, sehe immer noch ein verletztes Kind in sich. „Wenn jemand ungerecht behandelt wird, kriegt er eine Stinkwut.“ Ein anderer wollte ein Klassentreffen organisieren und habe Mitschüler besucht. „Er ist oft vom Hof gejagt worden. Viele haben gesagt: Komm mir ja nicht damit.“

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Es war einmal 69 Foto: None

Das Theater im Internat war schön, der Chor und das Fußballspielen auch, und ohne Hilfe stünde Frey heute wohl ohne Abitur da. „Das war das Positive.“ Aber die negativen Erfahrungen sind es, die bleiben. „Damals ist vielen Menschen viel genommen worden“, sagt Frey.

Erzdiözese Freiburg bereit zur Aufklärung

Solche Berichte über das ehemalige erzbischöfliche Studienheim Rastatt sind bei der Erzdiözese Freiburg nicht bekannt, wie Sprecher Michael Hertl auf BNN-Anfrage sagt. „Wenn Unrecht geschehen ist, wird das im Rahmen unserer Möglichkeiten aufgeklärt.“

Mittlerweile wird die Einrichtung als „Bildungshaus St. Bernhard“ geführt und bietet „Herberge und Inspiration für Körper, Geist und Seele“.

Wie zu Internatszeiten gearbeitet worden ist, wurde laut Hertl noch nie überprüft. Die Schilderungen von Frey zählten aber „zum groben Kontext des Machtmissbrauchs“. Er müsse sich offiziell mit dem Wunsch nach Aufklärung melden. „Wenn es eine Systematik gab, muss man sich das anschauen.“

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