Zwei Männer schlagen einem 36-Jährigen mit geistiger Behinderung in einer Stadtbahn ins Gesicht. Die Mutter, die ihren Sohn begleitet, steigt zusammen mit ihm an einem Bahnhof aus, um ihn in Sicherheit zu bringen. Doch die beiden Männer folgen ihnen, schlagen und treten den 36-Jährigen erneut. Dieser Vorfall Anfang Februar in Karlsruhe-Durlach hat viele Menschen entsetzt. Auch wenn sich der Fall im Nachhinein komplexer darstellt, rückt er ins Bewusstsein, was oft im Verborgenen bleibt: Gewalt gegen Menschen mit Behinderung.
Petra Mumbach sitzt in einem Raum des Rastatter Landratsamtes. Die Beauftragte für die Belange von Menschen mit Behinderung des Landkreises ist davon überzeugt: „Menschen mit Behinderung werden leichter Opfer von Übergriffen als Menschen ohne Behinderung.“
Mumbach, gelernte Kinderkrankenschwester und Sozialarbeiterin, führt Studien als Belege an. „50 bis 60 Prozent der Frauen mit Behinderung haben in ihrer Kindheit und Jugend Gewalt erfahren. 30 bis 36 Prozent sind es im Bevölkerungsdurchschnitt.“
Hohe Dunkelziffer bei Gewalt gegen Menschen mit Behinderung
In Heimen und Internaten erlebte rund die Hälfte der behinderten Menschen psychische Übergriffe, ein Drittel darüber hinaus auch körperliche. „In diesem Bereich geht man davon aus, dass es eine sehr hohe Dunkelziffer aufgrund der Abhängigkeitsverhältnisse gibt“, erklärt die 58-Jährige. Mumbach ist es vor allem ein Anliegen, Menschen mit Behinderung zu stärken. Dafür müssten aber alle Informationen frei zugänglich sein – wie auch die Hilfsangebote.
Der Übergriff auf den 36 Jahre alten Mann mit geistiger Behinderung am Bahnhof Karlsruhe-Durlach stellt sich einige Tage später als durchaus komplex heraus. So meldet sich eine Zeugin bei der Polizei und sagt aus, der 36-Jährige habe in der Bahn zuerst einer Begleiterin der beiden Männer grundlos ins Gesicht geschlagen. Die Mutter habe das nicht gemerkt, aber während der darauffolgenden Attacke gesagt, dass ihr Sohn eine Behinderung habe und die beiden Männer ihn in Ruhe lassen sollen.
Behinderter Mann muss mit Anzeige wegen Körperverletzung rechnen
Dennoch verfolgten die beiden Unbekannten sie bis in die Unterführung und schlugen erneut zu. Die Polizei ermittelt nach wie vor wegen Körperverletzung und sucht nach Zeugen. Aber: Laut einem Polizeisprecher muss auch der 36-Jährige mit einer Anzeige wegen Körperverletzung rechnen. Die Mutter wollte sich auf Anfrage nicht zu dem Vorfall äußern.
Petra Mumbach ist nicht in den Fall involviert, erklärt aber, dass es geistige Behinderungen gebe, bei der bestimmte Verhaltensweisen als provozierend empfunden würden. „Dann reagieren die Betroffenen, weil sie nicht kommunizieren können, indem sie zum Beispiel schlagen. Die Menschen mit Behinderung wollen sich damit vielleicht nur selbst schützen, aber niemandem wehtun“, sagt die 58-Jährige. Das könne aber von der Umwelt fehlinterpretiert werden und dazu führen, dass die Gewalt eskaliert.
Statistische Erfassung der Gewalt gegen Menschen mit Behinderung ist kompliziert
Die statistische Erfassung der Gewalt gegen behinderte Menschen ist kompliziert. Relativ leicht zu finden ist nur die politisch motivierte Kriminalität in diesem Bereich, die vom Innenministerium erfasst wird. Für Baden-Württemberg enthält diese für 2018 einen Fall von Volksverhetzung oder Gewaltdarstellung sowie zwei Sachbeschädigungsdelikte.
Die Zahlen zu den Straftaten gegen Menschen mit Behinderung ohne politische Motivation sind nur nach Auswertung durch das Landeskriminalamt (LKA) erhältlich. Sie sprechen eine andere Sprache. So gab es 2018 eine Straftat gegen das Leben, 234 Delikte gegen die persönliche Freiheit und 86 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung.
Auch ein Sprecher des Innenministeriums ist der Meinung, dass in diesem Bereich von einem „vergleichsweise hohen Dunkelfeld“ ausgegangen werden müsse.
Oftmals wenden sich die Menschen aus Scham nicht an die offiziellen Stellen und bitten um HilfeUlrike Wernert, Behindertenbeauftragte der Stadt Karlsruhe
„Oftmals wenden sich die Menschen aus Scham nicht an die offiziellen Stellen und bitten um Hilfe. Daher ist es ganz wichtig, dass sie von vertrauten Personen unterstützt werden“, ergänzt Ulrike Wernert in Bezug auf das Verhalten nach einem Verbrechen. Die Behindertenbeauftragte der Stadt Karlsruhe empfängt Besucher in ihrem Büro im 2. Stock des Rathauses West. Sie kennt viele Probleme der Menschen, die zu ihr kommen, da sie selbst im Rollstuhl sitzt: „Manche nehmen von mir eher etwas an, weil ich authentischer bin als jemand, der keine Behinderung hat.“
Vor Kurzem habe die 53-Jährige mit einer Dolmetscherin gesprochen, die vor Gericht in Leichte Sprache gedolmetscht habe. Es gehe in die richtige Richtung, sind sich Wernert und Mumbach einig. „Ich könnte mir vorstellen, dass man mal Polizisten mit Menschen mit geistiger Behinderung zusammenbringt, sodass sie deren Bedürfnisse kennenlernen. In Karlsruhe ist mir diesbezüglich nichts bekannt“, erläutert Wernert aber weiteren Handlungsbedarf.
Anwalt aus Hamburg sieht Handlungsbedarf bei der Polizei
Den sieht auch Oliver Tolmein. Der Gründer der Kanzlei „Menschen und Rechte“ in Hamburg ist Experte für Behindertenrecht. Seiner Meinung nach gibt es zu wenig qualifizierte Polizisten, die ermitteln, wenn Menschen mit Behinderung Opfer von Gewalt werden.
„Bei Menschen mit geistiger Behinderung haben wir leider oft das Problem, dass sie keine besonders guten Zeugen sind – im Sinne dessen, was Strafgerichte von Zeugen erwarten“, erläutert Tolmein. Auch bemängelt der Anwalt, dass die UN-Behindertenrechtskonvention zu wenig berücksichtigt werde: „Die Umsetzung des Zugangs zum und den Schutz durch das Recht wird derzeit nicht gerade mit besonderem Engagement betrieben.“
Polizeigewerkschafter: Thema gehört in die Chef-Etagen
Torsten Fröhlich, Vorstandsmitglied der Gewerkschaft der Polizei Baden-Württemberg, sieht das anders. „Mittlerweile sind die Kollegen durch Ausbildung und Lehrgänge wesentlich sensibler geworden, was den Umgang mit behinderten Menschen betrifft – ob sie nun Opfer oder Täter sind“, erklärt er. In der Ausbildung, aber insbesondere im Studium für den gehobenen Dienst sei Opferschutz generell ein Schwerpunkt.
Für Fröhlich muss das Thema dort angesiedelt sein, wo es auch Petra Mumbach, Ulrike Wernert und Oliver Tolmein sehen: ganz oben. „Es liegt in der Führungsverantwortung der Dienstgruppenleiter, bis hin zu den Präsidenten, dafür zu sorgen, dass in den Präsidien das Bewusstsein vorhanden ist, dass man mit Menschen mit Behinderungen angemessen umgehen muss.“