Wenn sich die Kanzlerin und die Landeschefs am Mittwoch versammeln, um erneut die möglichen Lockerungen in der Pandemie abzuwägen, wird das eine der entscheidenden Fragen sein: Wie vollständig sind mittlerweile die Über-80-Jährigen durch Impfungen vor Covid-19 geschützt?
Die Ü80-Gruppe ist nach Einschätzung der Ständigen Impfkommission (Stiko) besonders gefährdet und genießt daher die höchste Impfpriorisierung (Gruppe 1). In Baden-Württemberg machen die Ü80 mehr als 70 Prozent der an und mit Covid-19 verstorbenen Menschen aus (5.740 Todesfälle, Stand Donnerstag).
Aktuelle Zahlen belegen aber auch, dass der Südwesten bei dem Impfschutz der Älteren derzeit bundesweit führend ist. Experten sehen dies als eine Chance, um die Corona-Einschränkungen bald vorsichtig zu lockern.
Virusmutanten in Baden-Württemberg auf dem Vormarsch
Wie überall in Deutschland sind heute in Baden-Württemberg die Virusmutanten auf dem Vormarsch. Das Landesgesundheitsamt meldet 317 Ausbrüche mit 1.460 Virusvarianten-Fällen. Etwa jeder zehnte dieser Fälle hat sich demnach seit Jahresbeginn in Pflegeheimen ereignet. Jedes vierte der 2.440 verfügbaren Intensivbetten war am Donnerstag von Über-60-Jährigen belegt.
Bei der Zweitimpfung liegen wir bundesweit auf Rang eins.Sprecherin des Sozialministeriums in Stuttgart
Doch es gibt auch gute Nachrichten. Auf BNN-Anfrage teilte das Sozialministerium in Stuttgart mit, dass im Land bis Donnerstag knapp 264.000 Menschen über 80 Jahre einmal geimpft wurden und rund 138.000 Senioren zweimal. „Damit liegen wir bundesweit bei den Impfungen der Ü80-Jährigen auf Rang zwei, knapp hinter Bayern, und bei der Zweitimpfung auf Rang eins“, so eine Sprecherin.
Die wichtigste Rolle bei dem Schutz der Älteren spielen die Mobilen Impfteams, die sämtliche Alten- und Pflegeheime mit Vakzinen versorgen sollen. Sie kontaktierten nach Ministeriumsangaben 92 Prozent (1.891) aller stationären Pflegeeinrichtungen, um eine Impfung anzubieten. Landesweit hätten die Teams bis Freitag etwa 71 Prozent dieser Einrichtungen einmal besucht. Knapp 45 Prozent der Heime seien komplett durchgeimpft.
Mobile Impfteams kommen in der Region gut voran
Auch in der Region kommen die Impfungen in der „Prioritätsgruppe 1“ gut voran. So wird im Enzkreis erwartet, bis Mitte März alle Heime mit Erst- und Zweitimpfungen versorgt zu haben. Das ist auch die Prognose im Stadt- und Landkreis Karlsruhe. „Es wird sicher noch einige Wochen dauern, bis alle Personen der Prio-1-Gruppe, die eine Impfung möchten, diese auch erhalten haben. Die Nachfrage nach freien Impfterminen ist immer noch größer als das Angebot“, teilte die Stadt Karlsruhe mit.
Wann wird der Corona-Schutzschirm über den älteren Menschen komplett aufgespannt sein? Es ist nicht einfach, diese Frage zu beantworten. Das Sozialministerium macht dazu keine Vorhersagen. Eine Schätzung liefert jedoch der vom Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (ZI) entwickelte Online-Simulationsrechner der Impfkampagne: Danach könnte die Risikogruppe 1 im Südwesten bis 11. April komplett durchgeimpft werden, wenn das derzeitige Tempo beibehalten wird.
Steigender Impfschutz kann die Intensivstationen entlasten
Der Berliner Infektionsepidemiologe Timo Ulrichs bremst die Erwartungen: Nach seiner Überzeugung werden bei weitem nicht alle Risikogruppen ausreichend geschützt sein, wenn die Entscheider in der Politik demnächst über die Lage beraten. „Trotzdem könnte sich der steigende Anteil der Geimpften in sinkenden Zahlen von Krankenhauseinweisungen, Intensivstationenbelegungen und Corona-Todesfällen bemerkbar machen“, sagt Ulrichs.
Das Impfen ist mit der Besetzung der Plätze in einem Flugzeug vergleichbar.Timo Ulrichs, Viren- und Seuchenexperte
Im Gespräch mit den BNN erklärt der Experte den weiteren Ablauf der Kampagne: „Bevor alle Über-80-Jährigen geimpft sein werden, werden die Personen der nächsten Priorisierungsgruppe zum Impfen geladen. Das ist in etwa mit der Besetzung der Plätze in einem Flugzeug vergleichbar: Auch wenn hinten noch nicht alle Plätze eingenommen worden sind, wird der Mittelteil des Flugzeuges besetzt.“
Eine stärkere Fokussierung auf die Impfquote, verbunden mit einer Abkehr von den bislang alles entscheidenden Inzidenz-Zahlen fordern die Analysten der Landesbank Baden-Württemberg in einer neuen Untersuchung.
Die Impfstoffe werden uns wohl erst im Elfmeterschießen retten.LBBW-Research
Die Denkfabrik LBBW Research zieht darin einen Vergleich mit dem Fußball: „Das Virus hat Mutanten eingewechselt und beschert uns nun eine Verlängerung. Die Impfstoffe werden uns also wohl erst im Elfmeterschießen retten“.
LBBW Research prognostiziert einen Komplettschutz für die Prioritätsgruppe 1 „nicht vor Ostern“ und das Erreichen der 70-prozentigen Impfquote und Herdenimmunität der Gesamtbevölkerung im August. Laut ihrer Studie wird sich jedoch die Zahl der Corona-Todesopfer bereits halbieren, sobald die Über-80-Jährigen geimpft sind.
Experten empfehlen moderate Lockerungen
Die Stuttgarter Analysten mahnen: „Ein längerer Lockdown kostet uns unnötig Wachstum“. Sie empfehlen deshalb „moderate Lockerungen“, solange die Intensivbettenbelegung durch die Verbreitung der Mutanten nicht deutlich steigt. Der Inzidenz-Anstieg in der „kritischen Phase“ bis Mitte Mai sollte nach Meinung von LBBW Research toleriert werden, solange weiter geimpft wird.