Dem SPD-Politiker Burkhard Lischka platzt vor dem Fernseher der Kragen. „Kann jemand mal dem Christian Sievers (ZDF-Heute Journal, Anmerkung der Redaktion) erklären, dass das Herstellen eines Corona-Impfstoffs etwas komplizierter ist, als einfach Cola und Fanta zu mischen“, twittert verärgert der Jurist.
Und auch der Präsident des Verbandes forschender Arzneimittelhersteller (VfA), Han Steutel, klingt irritiert, wenn er die aktuelle Debatte um Lieferungen und Produktionsmengen kommentiert.
„Eine Impfstoff-Fabrik ist kein Bücherregal aus dem Möbelhaus, das man schnell aufbauen kann“, erklärt der Fachmann in einem Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. „Wäre es so, hätten wir es doch längst gemacht.“
Große Erwartungen geweckt
Die außergewöhnlich schnelle Entwicklung von Corona-Impfstoffen in weniger als einem Jahr hat große Erwartungen und Hoffnungen geweckt. Sie stützen sich auf die Annahme, die finanzstarken Biotech-Unternehmen könnten nach der Erteilung der Zulassungen den Markt schnell mit ihren Produkten sättigen.
Oder die anderen Hersteller könnten die Lizenzen erwerben und mit den kopierten Verfahren eine eigene Produktion starten. Doch so einfach ist es eben nicht.
Weil Impfstoffe gesunden Menschen verabreicht werden, müssen sie rigorose Sicherheitskriterien erfüllen und gelten daher als die am strengsten regulierten Pharmaprodukte. Zudem zählt deren Herstellung zu den anspruchsvollsten Aufgaben in der Arzneimittel-Produktion.
Aus diesen Gründen können Biontech, Moderna und andere Firmen nicht – wie von manchen Politikern gefordert – einfach ihre Werkkapazitäten in kürzester Zeit vervielfachen, um die weltweit hohe Nachfrage nach den Impfstoffen zügiger zu bedienen.
Zwei Wege führen zum Ziel
Die in der EU zugelassenen Corona-Impfstoffe basieren auf zwei unterschiedlichen Technologien, die verschiedene Vorteile haben, aber jede für sich eine komplexe Herausforderung darstellen. Das Vakzin von Astrazeneca wird als ein sogenannter Vektor-Impfstoff in einem etablierten Verfahren produziert.
Vereinfacht dargestellt, besteht er aus einem genetisch veränderten, für den Menschen ungefährlichen Virus.
Er führt bei Geimpften zu einer schützenden Immunreaktion, indem die Körperzellen ein Sars-CoV-2-Oberflächenprotein kennenlernen, passende Abwehrstoffe produzieren und dadurch wehrhaft gegen das echte Virus werden.
Mit den Produkten von Biontech und Moderna sind derzeit in Europa zwei Impfstoffe auf dem Markt, die nach dem sogenannten Messenger-RNA (mRNA)-Prinzip funktionieren. Beide Unternehmen arbeiten nicht mit einem lebenden Virus, sondern nur dessen genetischen Code.
Dabei wird der körpereigene Botenstoff mRNA mit der Information des Virus sowie einem Warnsignal versehen. Das Immunsystem erhält dadurch eine Art Corona-Steckbrief und kann sich darauf vorbereiten, das Virus bei Bedarf anzugreifen. Der mRNA-Technologie werden große Zukunftschancen eingeräumt.
580 Produktionsschritte bei der Impfstoff-Herstellung
Die Impfstoffherstellung ist generell ein langwieriger, maßgeschneiderter Prozess. Der Pharmakonzern Pfizer spricht in diesem Zusammenhang von mehr als 580 notwendigen Produktionsschritten.
Bis zu 70 Prozent der Zeit beanspruchen Qualitätskontrollen. Manche Impfstoffe müssten 450 solcher Kontrollen durchlaufen, teilt der internationale Pharmaverband IFPMA mit.
Die Antigene für die herkömmlichen Impfstoffe werden in Bioreaktoren vermehrt. Sie müssen später in einem mehrstufigen Filterprozess aus dem Gemisch mit Zellkulturen und Nährstoffen „geerntet“ und aufbereitet werden. Dagegen wird die mRNA im Labor synthetisch hergestellt.
Diese Technologie gilt als flexibel und schnell, da sie grundsätzlich die Produktion großer Mengen innerhalb kurzer Zeit erlaubt. Ein weiterer Vorteil: Der Produktionsprozess ist standardisiert und muss nicht für jeden neuen Impfstoff angepasst werden.
Reinheit ist für Verträglichkeit wichtig
So oder so ist aber für eine erfolgreiche Impfstoffproduktion ein präzise kalkuliertes Zusammenspiel vieler Faktoren entscheidend. So braucht man zum Beispiel Fläschchen aus speziell beschichtetem Glas, damit es zu keinerlei chemischer Reaktion mit dem Wirkstoff kommt.
Sehr wichtig für seine spätere Verträglichkeit ist auch der hohe Reinheitsgrad und bei der empfindlichen mRNA-Technologie eine zuverlässige Kühlung. Jede Impfstoffcharge in Deutschland muss durch das Paul-Ehrlich-Institut freigegeben werden, das eigene Prüfungen vornimmt.
Während die Vektor-Impfstoffe schon früher in geringeren industriellen Mengen hergestellt wurden, beschreiten gerade Biontech und Moderna mit der anlaufenden mRNA-Massenproduktion neue Wege.
Bis vor kurzem lediglich für die klinischen Tests ausgelegt, muss die eigens aufgebaute Fertigung hochskaliert werden. Dafür brauchen die Firmen Zulieferer-Netzwerke, geeignete Kapazitäten und erfahrene, externe Partner.
Selbst Pharmariese Bayer braucht Monate bis zum Produktionsstart
Das kleine baden-württembergische Familienunternehmen Curevac, dessen Impfstoffkandidat noch nicht zugelassen ist, will beispielsweise mit dem Bayer-Konzern kooperieren, um die EU-Vorbestellung von 220 Millionen Dosen sicher erfüllen zu können.
Doch selbst der Pharmariese betrachtet diese Aufgabe als eine enorme Herausforderung. Laut einem Bayer-Sprecher werde der „hochkomplexe Produktionsprozess“ voraussichtlich erst Ende 2021 starten können.
Biontech rüstet für seine Impfstoffherstellung das ehemalige Marburger Werk des Schweizer Pharmakonzerns Novartis aus. Die Mainzer können in der hessischen Uni-Stadt vorhandene Infrastruktur und Expertise nutzen, dennoch gilt der Umbau als anspruchsvoll.
Es ist nicht so, als stünden spezialisierte Fabriken ungenutzt herum.Ugur Sahin , Biontech-Chef
Es handele sich um einen Rekord beim Aufbau einer solchen Produktionsstätte, befand kürzlich Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Normalerweise dauere das ein bis zwei Jahre. „In diesem Fall wären es dann wenige Monate.“
Biontech-Chef Ugur Sahin mahnt Geduld an: „Es ist nicht so, als stünden überall in der Welt spezialisierte Fabriken ungenutzt herum, die von heute auf morgen Impfstoff in der nötigen Qualität herstellen könnten“, sagte der Unternehmer dem „Spiegel“.
Und verwies erneut auf die enorme Komplexität der Aufgabe. „Da kann man nicht einfach umschalten, sodass statt Aspirin oder Hustensaft plötzlich Impfstoff hergestellt wird.“