Der Verfassungsschutz in Baden-Württemberg rechnet in den kommenden Monaten mit zahlreichen Protesten gegen die allmählich in Schwung kommende Corona-Impfkampagne.
Besonders große Sorgen macht sich das Landesamt (LfV) wegen der Radikalisierung der Querdenker-Bewegung, die seit Ende 2020 wegen der „grundsätzlich staatsfeindlichen“ Ausrichtung ihrer Führungsfiguren mit nachrichtendienstlichen Mitteln beobachtet wird.
Auf einer Tagung an der neuen Dokumentationsstelle für Extremismus im Generallandesarchiv (GLA) Karlsruhe berichtete der stellvertretende LfV-Leiter Frank Dittrich von einer zunehmenden ideologischen Nähe und organisatorischer Vernetzung der Querdenker-Anführer mit den verfassungsfeindlichen Reichsbürgern und der nach seinen Worten „äußerst gefährlichen“ QAnon-Bewegung.
Stimmungsmache gegen Staatsmacht auf Corona-Demonstrationen
„Die Kritik am staatlichen Handeln in der Pandemie ist legitim. Aber die Übernahme der QAnon-Narrative und die massive Verharmlosung des Nationalsozialismus hat die Querdenker-Veranstaltungen für Extremisten attraktiv gemacht“, stellte Dittrich fest.
„Diese werden die Corona-Thematik dazu nutzen, um Stimmung gegen den Staat zu machen“, warnte er. Das LfV erwartet, dass Querdenker und ihre rechten Mitläufer angesichts der Beschränkungen für Demonstrationen auf andere Protestformen ausweichen, etwa Auto-Korsos oder Blockaden von Straßen.
Die zweitägige, hochkarätig besetzte Konferenz in Karlsruhe beleuchtete die Entwicklung des Rechtsextremismus seit der Weimarer Republik und nahm eine Bestandsaufnahme der rechten Gefahr für die Demokratie vor. Die zahlreichen Beispiele für eine „Entgrenzung der Gewalt“ klangen beunruhigend.
„Es gibt jeden Tag im Schnitt zwei bis drei rechtsextremistische Gewalttaten in Deutschland, aber wir nehmen das nicht immer zur Kenntnis, weil oft nur auf den Terrorismus geschaut wird“, sagte Armin Pfahl-Traughber von der Hochschule für Öffentliche Verwaltung des Bundes in Brühl.
Rechtsruck verstärkt Extremismusgefahr
Er und andere Experten waren sich einig darin, dass ein gesamtgesellschaftlicher Rechtsruck unter Beteiligung der AfD in bestimmten Milieus die Gewaltbereitschaft verstärkt, auch weil sich viele Extremisten jetzt im Einklang mit der „Stimmung des Volkes“ wähnen würden.
Der Trend zu extremistischen Kleingruppen und Einzeltätern, die keine langfristige Vorbereitung für Anschläge mehr benötigten, erschwere die Überwachung der Sicherheitsbehörden. Zugleich werbe der gewandelte Extremismus mit neuer Wirksamkeit um Anhänger in der bürgerlichen Mitte: Statt der „plumpen“ Parolen von früher setze die rechte Szene heute auch auf Themen wie Umweltschutz und nutze Computerspiele, um ihre verfassungsfeindlichen Botschaften zu transportieren.
In einer Diskussionsrunde zum Rechtsextremismus im Südwesten sagte der Präsident des Landeskriminalamtes (LKA), Ralf Michelfelder, dass ihm und seinen Kollegen zurzeit 110 Rechtsextremisten größere Sorgen machen würden.
LfV-Chefin Beate Bube sprach von etwa 2.000 Personen im Blick des Landesamtes, davon etwa ein Drittel im „gewaltbereiten Bereich“. Die Sicherheitsbehörden beobachten zudem eine starke Zunahme von extremistischen Drohungen und verbalen Angriffen gegen Kommunalpolitiker im Land.
Wir müssen abwägen zwischen Freiheit und Sicherheit.Beate Bube, Präsidentin des Landesamtes für Verfassungsschutz Baden-Württemberg
Polizei und Verfassungsschutz wehren sich gegen den populären Vorwurf, bislang „auf dem rechten Auge blind“ gewesen zu sein. Die Behörden seien heute personell besser aufgestellt und vor allem viel enger vernetzt, um den rechten Terror effizient zu bekämpfen, sagen sie.
Nach Meinung von Thomas Grumke von der Hochschule für Polizei und Öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen müsste jedoch angesichts der Bedrohung von rechts die Analysefähigkeit der Sicherheitsbehörden verbessert werden. In einem demokratischen Staat sei es unmöglich, alle permanent zu überwachen, stellte Beate Bube klar. „Wir müssen abwägen zwischen Freiheit und Sicherheit“.
Karlsruher Dokumentationsstelle soll für Öffentlichkeit zugänglich sein
Die Karlsruher Dokumentationsstelle wurde im Sommer 2020 vom Land Baden-Württemberg als Konsequenz aus dem NSU-Untersuchungsausschuss des Landtags eröffnet. Ihr Ziel ist es, Informationen über klassische rechtsextreme Strukturen zu sammeln, aber auch neue Formen rechten Denkens wie die Reichsbürger, die Querdenker-Bewegung und die Anhänger von Verschwörungsmythen zu dokumentieren.
Diese Daten sollen der Öffentlichkeit und Forschung zugänglich gemacht sowie pädagogisch vermittelt werden. Die Karlsruher Einrichtung wird mit insgesamt 230.000 Euro vom Land finanziert und baut auf der Rechtsextremismus-Sammlung des Journalisten Anton Maegerle auf, die als die größte dieser Art in Deutschland gilt.
Rechtsextremismus ist die größte Bedrohung für unsere Gesellschaft.Theresia Bauer, Wissenschaftsministerin
Die Dokumentation beim Generallandesarchiv soll nach den Vorstellungen von Baden-Württembergs Wissenschaftsministerin Theresia Bauer (Grüne) in der Wissenschaftslandschaft vernetzt und später zu einer eigenen Forschungsstelle für rechtes Gedankengut und Netzwerke ausgebaut werden. Die Ergebnisse der Konferenz in Karlsruhe fließen in das Konzept dieser zukünftigen Stelle mit hinein.
Neue Forschungsstelle in Karlsruhe geplant
„Rechtsextremismus ist die größte Bedrohung für unsere Gesellschaft“, sagte Bauer zu Beginn der Tagung. „In den meisten Parlamenten sind heute rechtsextreme Kräfte zu finden, die bei jeder Gelegenheit versuchen, am demokratischen System zu rütteln.
Unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit – ,das wird man ja noch sagen dürfen’ – erleben wir Konsensverschiebungen im öffentlichen Diskurs und die Verrohung der Sprache“. Diese gelte es zu verstehen und zu dokumentieren. Aus der Sicht der Grünen-Politikerin ist Karlsruhe „wegen seines besonderen Umfelds ein idealer Platz dafür“.