Mit sechs Jahren muss Karl-Heinz Joseph seine Mutter verabschieden, die im heimischen Schlafzimmer im Sterben liegt. Dafür hat sein Vater ihn aus der Klinik am Bodensee geholt. „Mama schläft jetzt“, sagt Karl-Heinz irgendwann zum Vater und fragt, wer denn dieser sieben Jahre alte Junge neben ihm ist. Es ist sein Bruder Siegfried, der über Jahre in der Klinik nur ein Stockwerk unter ihm gelebt hatte.
Karl-Heinz und Siegfried sind Kinder von Scheidegg. Kinder, die in den Sechzigerjahren an Tuberkulose erkrankten und in der Klinik im Landkreis Lindau geheilt wurden. Heute sagt Karl-Heinz Joseph: „Diese Krankheit hätte für uns ohne diese Behandlung den Tod bedeutet.“ Der 57-Jährige möchte mit seinem Bruder so offen wie noch nie über diese Zeit sprechen. Mit ihren Berichten und denen weiterer Betroffener möchte die Bremer Wissenschaftlerin Carola Otterstedt auf die Schicksale aufmerksam machen. Nach der Corona-Pandemie möchte sie in Scheidegg ein großes Treffen organisieren.
Die 58-Jährige ist selbst ein Kind von Scheidegg. „Dafür bin ich extrem dankbar“, sagt sie. „Vor dem Aufenthalt hatte ich starke Probleme mit der Lunge – und erst danach eine richtige Kindheit.“ Tuberkulose kann die Lunge und Knochen befallen. Vor allem in der Nachkriegszeit war die heute besser behandelbare bakterielle Infektionskrankheit für die unterernährten Kinder gefährlich. „Jedem dieser Kinder war bewusst, dass es todkrank ist“, sagt Otterstedt. In Kinderheilstätten wie in Scheidegg bekamen sie die damals vielversprechendste Behandlung: Luftkur, Inhalation, Lichttherapie, Antibiotika. Kinder mit Knochen-Tb mussten Gips tragen und sich schonen.