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Lernmittelfreiheit nur auf Papier

Für welches Unterrichtsmaterial müssen Eltern in Baden-Württemberg bezahlen?

Viele Eltern wissen nicht, dass sie zu Unrecht für Schulmaterialien zur Kasse gebeten werden, dabei sind die Kosten dafür geregelt: Die Lernmittelfreiheit ist aber ein verwirrendes Thema.

Das geht ins Geld: Für Hefte, Stifte und Lernmaterialien müssen Eltern oft tief in die Tasche greifen. Viele bezahlen auch für Romane und Übungsmaterialien der Kinder – obwohl dafür der Staat zuständig wäre.
Für Hefte, Stifte und Lernmaterialien müssen Eltern oft tief in die Tasche greifen. Viele bezahlen auch für Romane und Übungsmaterialien der Kinder. Foto: Stock-Foto

Für welche Schulmaterialien müssen Eltern bezahlen? Auf diese Frage gibt es verwirrend viele Antworten. Auf dem Papier ist Baden-Württemberg ein Musterland für Familien mit Schulkindern: Im Südwesten gilt die Lernmittelfreiheit.

In der Realität sieht die Sache oft anders aus. Wichtige Fragen und Antworten zu dem strittigen Thema hat unsere Redakteurin Elvira Weisenburger zusammengestellt.

Was heißt das überhaupt: Lernmittelfreiheit?

Das bedeutet, dass Lernmittel kostenlos sind. Alle Kinder sollen ja eigentlich freien Zugang zur Bildung haben. Baden-Württemberg hat die Lernmittelfreiheit sogar in Artikel 14 der Landesverfassung verankert. Auf eine Feinheit kommt es allerdings an: Es muss sich um „notwendige Lernmittel“ handeln. Das Kultusministerium betont, dass die Schulleitung oder die Fachabteilung der Schule auch Lektüren und Übungshefte, die zusätzlich zu den regulären Lehrbüchern angeschafft werden, ausdrücklich zu solchen „notwendigen Lernmitteln“ erklären muss. Dann muss der Schulträger sie finanzieren – so weit die Theorie.

Und wie funktioniert das in der Praxis?

Landauf und landab bezahlen Eltern regelmäßig für Romane, Spanisch-Workbooks oder Mathe-Übungshefte. Manche Schulen teilen routiniert vorgedruckte Formulare aus, die Mütter und Väter dann bei den Buchhandlungen abgeben – und ihren Elternanteil in bar bezahlen. Wie viele Familien betroffen sind? Statistiken gibt es dazu nicht. Matthias Schneider, Landessprecher der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), hat eine desillusionierend klare Einschätzung dazu: „Das ist eine große Mehrheit“, sagt er. „Wir vermuten, dass die Beträge, die Eltern ausgeben müssen, eher gestiegen sind.“

Warum wälzen Schulen die Kosten für Übungshefte und Romanlektüren häufig auf die Eltern ab?

Das beruhe auf einer alten, weit verbreiteten Annahme, erklärt Karin Broszat, Landesvorsitzende des Realschullehrerverbandes (RLV): „Es herrscht die Einschätzung vor: Was Schüler beschreiben, bezahlen die Eltern selbst.“ Auch Romane, in denen die Kinder mit dem Textmarker die wichtigen Zitate anstreichen oder Kuli-Notizen machen, gelten deshalb immer noch oft als Privatsache. Weil diese Hefte nicht mehr an andere Schüler verliehen werden können. Juristen sehen das längst anders: Auch solche Materialien müssen kostenfrei „zum Verbrauch“ überlassen werden – falls es pädagogisch gewünscht ist, dass die Kinder in die Bücher und Übungshefte hineinschreiben.

Und wenn die Mütter und Väter auf dem Elternabend zustimmen, dass sie die Lektüren selbst bezahlen?

Das Gesetz sieht zwar vor, dass die Schulen keine Lernmittel bereitstellen müssen, falls die Eltern sie selbst anschaffen – doch solche Abstimmungen auf Elternabenden sind aus Sicht des Landeselternbeirats (LEB) nicht nur unmoralisch, sondern auch rechtswidrig. „In einem Abhängigkeitsverhältnis gibt es keine Freiwilligkeit“, betont LEB-Vorsitzender Michael Mittelstaedt. Fast kein Elternpaar traue sich, Nein zu sagen, wenn ein Klassenlehrer am Elternabend fragt: „Sie haben doch sicher nichts dagegen, dass wir diese Lektüre anschaffen.“ Niemand wolle öffentlich zugeben, dass ihn solche Zusatzausgaben belasten. Zudem fürchteten Eltern oft Nachteile für ihr Kind, falls sie protestieren. Daher das Abhängigkeitsverhältnis. „Nach dem Elternabend, draußen auf der Straße, meckern dann alle“, weiß Mittelstaedt aus Erfahrung.

Was ist eigentlich mit Schreibheften, Buntstiften und Radierern? Sind das nicht auch notwendige Lernmaterialien?

Vom Alltagsverständnis her: ja. Die Eltern sind trotzdem selbst dafür zuständig. „Ausgenommen von der Lernmittelfreiheit sind sogenannte Gegenstände ,geringen Wertes‘“, teilt der Sprecher von Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) mit. „Dabei handelt es sich um Gegenstände, deren Beschaffung beziehungsweise Kostenerstattung einen unverhältnismäßigen Verwaltungsaufwand verursachen. Hierzu gehören insbesondere Papier, Hefte, Ordner, Schreib- und Malgeräte sowie Farbkästen, Zeichenmaterial und Verbrauchsmaterial. Diese Arbeitsmaterialien sind in der Regel selbst zu beschaffen.“

Immer wieder hört man von einer Bagatell-Grenze von einem oder zwei Euro. Alles, was unter dieser Preisgrenze liegt, müssten die Eltern kaufen. Stimmt das?

Es gibt keine klar festgelegte Bagatell-Grenze. In den 1950er-Jahren war sie mal auf eine D-Mark beziffert worden. Ein Urteil des Verwaltungsgerichtshofs in Mannheim von 2001 vermerkte nur, dass ein strittiger Roman-Kauf für 9,90 DM nicht unter die Geringfügigkeitsgrenze fällt. „Eine Bagatell-Grenze gibt es im Schulgesetz nicht mehr“, erklärt das Kultusministerium. Durch die Köpfe geistert sie aber hartnäckig. Manche Eltern, Lehrer und Kommunen schreiben den zumutbaren Bagatell-Betrag im Geiste mit Inflationsraten fort.

Wer muss das Geld für die Lernmittel überhaupt bereitstellen?

Dafür sind die Schulträger, also die Städte, Gemeinden und Kreise zuständig. Sie weisen den Schulen ein Budget zu. Schneider warnt deshalb davor, den Ärger an den Lehrkräften auszulassen. „Die Schulträger müssen dafür sorgen, dass die Schulmittelfreiheit umgesetzt wird“, betont er. Sie bekommen auch Zuweisungen vom Land für den kostspieligen Schulbetrieb. Pro Realschüler sind das zum Beispiel 1.027 Euro pro Jahr. Reichen die Budgets nicht, müssten die Schulträger eben mit dem Land neu verhandeln. Das Kultusministerium wiederum sieht die kommunalen Träger in der Pflicht: Das Argument, das Budget reiche nicht für kostenfreie Lernmittel, ändere „nichts am gesetzlichen Grundsatz“.

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