„Sie machen das schon!“ Mit diesen Worten hat sich Gottfried Böhm in seinem Kölner Büro im August 2015 von mir verabschiedet. Der bedeutendste lebende deutsche Architekt, der heute 100 Jahre alt wird, wollte das Interview nicht, wie im deutschen Journalismus üblich, vor Veröffentlichung lesen.
Als emeritierter Professor für Stadtbereichsplanung und Werklehre der RWTH Aachen vertraute er dem ehemaligen Studenten, der ihn in der ersten Hälfte des 1980-er Jahre als wichtigsten Lehrer seiner Architekturfakultät erleben durfte.
Das Interview hat auf mein Drängen hin Böhms Sohn Peter, ebenfalls Architekt, gelesen, bevor es in den BNN erschienen ist. Sein damals 95-jähriger Vater hat sich darin auf seine unvergleichliche Art, die gleichzeitig selbstbewusst und bescheiden ist, zur Zukunft der Städte und Dörfer geäußert.
Nach dem einstündigen Gespräch saß er im verglasten Erker des von seinem Vater Dominikus 1932 erbauten Atelierhauses für ein eindrucksvolles Portraitfoto Modell.
Smoking und Fliege trug Böhm nur einmal
Selbstverständlich trug Böhm eine Wolljacke. Smoking und Fliege hat er nach Auskunft seines früheren Mitarbeiters Dieter Basilius nur ein einziges Mal angezogen, nämlich 1986 als er als erster Deutscher den Pritzker-Preis erhielt. Diese weltweit wichtigste Auszeichnung für Architektur wurde in Anlehnung an den Nobelpreis gestiftet.
Gottfried Böhm gehört einer Architektendynastie an. Er ist Sohn und Vater. Als Sohn des großen Kirchenbaumeisters Dominikus Böhm, den der Kölner Erzbischof Josef Kardinal Frings als „bahnbrechenden Meister“ bezeichnet hat, der die kirchliche Baukunst aus den Fesseln des Historismus befreit hat, begann er aus Furcht, dem Übervater nicht gerecht zu werden, 1942 in München mit dem Studium der Bildhauerei.
Sehr schnell wandte sich Gottfried Böhm zusätzlich der Architektur zu und schloss diese Ausbildung 1947 an der TU München ab. Die Bildhauerei blieb für sein Schaffen als Architekt prägend. „Felsen aus Beton und Glas“ war deshalb die große Ausstellung über Böhm 2006 im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt überschrieben.
Böhm schuf vor allem Sakralbauten
Bis zum Tod des Vaters 1955 arbeitete Gottfried Böhm als Partner in dessen Kölner Büro. Sein Werk wird vor allem durch unverwechselbare Sakralbauten geprägt, von der 1950 in den Ruinen der kriegszerstörten Kolumba-Kirche in Köln vollendeten Kapelle „Madonna in den Trümmern“ bis hin zur 1968 fertiggestellten Wallfahrtskirche in Neviges im Bergischen Land.
Das an ein zerklüftetes Felsmassiv erinnernde Gebäude aus plastisch durchgestaltetem Beton ist mit 6000 Plätzen nach dem Dom die größte Kirche in der Erzdiözese Köln. Böhms profanes Meisterwerk ist das 1964 bis 1969 auf die Ruine einer mittelalterlichen Höhenburg gesetzte Rathaus in Bensberg.
Mit dieser Trutzburg aus steinmetzmäßig geformtem Beton, die Vergangenheit und Gegenwart verbindet, erhielt die Stadt im Bergischen Land ihre Akropolis.
Böhms Bauwerke haben immer eine städtebauliche Komponente. Mit dem Kinderdorf Bethanien in Bergisch Gladbach schuf er 1962 bis 1968 eine komplette Siedlung in der Form eines Angerdorfes mit Kirche und Platz im Zentrum. Seine Hauptwerke in Baden-Württemberg sind das 1985 fertig gestellte Züblin-Verwaltungsgebäude in Stuttgart und die 2004 vollendete Stadtbibliothek in Ulm in Form einer gläsernen Pyramide.
Züblin steht mit der zentralen verglasten Halle für eine Besonderheit Böhms, die in der Frankfurter Ausstellung als „eingehauster Stadtraum“ bezeichnet wurde und die sich in seinem Œuvre in Passagen, Foyers und Hallen findet. Beide Bauwerke im Südwesten sind typisch für Böhms Schaffen seit den 1970er Jahren, in dem Stahl und Glas zunehmend Beton ersetzen.
In seinem Alterswerk wandte sich Böhm mit dem Hans-Otto-Theater in Potsdam (2008) und der Ditib-Zentralmoschee in Köln (2017 gemeinsam mit seinem Sohn Paul) wieder den Betonskulpturen zu.
Pläne für Reichstagskuppel stammen auch von Gottfried Böhm
Weniger bekannt ist, dass Böhm der geistige Vater der Reichstagskuppel in Berlin ist. Im Auftrag des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl legte er bereits 1988 einen später konkretisierten Entwurf für eine begehbare Glaskuppel über dem Plenarsaal vor. Dieser wanderte in Norman Fosters ausgeführtem Plan eine Etage tiefer, während der transparente und demokratische Ansatz Böhms in der Schublade verschwand.
Sein ungebrochenes Interesse für Sakralarchitektur betonte Böhm im BNN-Interview 2015: „Wenn viele Menschen heute weniger glauben, ist es trotzdem schön, wenn wir in unseren Städten und Dörfern Zeichen haben, die unser Leben auf eine höhere Stufe stellen. Das fehlt mir beispielsweise in den Vereinigten Staaten, wo es Ortschaften ohne Kirchturm gibt, die nichts zu sagen haben, was den Menschen etwas höher hinaufhebt.“