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Mehr Zeit wegen Corona

Haupt- und Realschüler schreiben an diesem Dienstag ihre Deutsch-Klausuren

An diesem Dienstag brüten die Prüflinge an Hauptschulen und (Werk-)Realschulen über ihren Deutsch-Abschlussklausuren. Die Pflichtlektüre, die sie dafür lesen mussten, stammt nicht von Goethe, sondern von einem lebenden, italienischen Schriftsteller.

Eine Schülerin sitzt während der Abiturprüfung im Fach Biologie in der Aula im Sorbischen Gymnasium Bautzen auf ihrem Platz. +++ dpa-Bildfunk +++
30 Minuten Puffer für die Prüfung: An diesem Dienstag schreiben rund 73.000 Haupt- und Realschüler in Baden-Württemberg ihre Abschlussprüfung im Fach Deutsch. Foto: Sebastian Kahnert/dpa

Nein, mit den alten Klassikern, mit Goethes „Faust“ und „angestaubter“ Sprache müssen sich die Prüflinge an diesem Dienstagmorgen nicht herumschlagen: Die rund 73.000 Haupt- und (Werk-)Realschüler im Land, die über ihren Deutsch-Abschlussklausuren schwitzen, mussten oder durften eine moderne Pflichtlektüre lesen: Gabriele Climas „Der Sonne nach“.

Ein ungewöhnliches Duo steht in dem 160-Seiten-Buch im Mittelpunkt: der aufmüpfige, aggressive Dario und der schwerbehinderte Andy. Zur Strafe für etliche Ausfälligkeiten hat der Schuldirektor den Tunichtgut Dario dazu verdonnert, sich um den Mitschüler im Rollstuhl zu kümmern.

Dass der pubertierende Rebell den gehandicapten und sabbernden Andy zunächst als „Halbidioten“ bezeichnet, ist politisch wenig korrekt – doch im Lauf der Geschichte kommt es, wie es bei einem viel gelobten Jugendbuch kommen muss: Der Pfleger wider Willen freundet sich mit seinem zunächst stummen Schützling an.

Ja, er nimmt ihn sogar mit auf seine Flucht, auf eine Reise zu seinem vor Jahren abgetauchten – und schmerzlich vermissten – Vater. Als „Ziemlich beste Freunde“ für Kinder, versetzt mit einer Prise „Tschick“, wird das Buch auch angepriesen.

Aufmüpfiger Schüler flieht mit Rollstuhlfahrer

Denn wie im französischen Kino-Kassenschlager geht es um die anfangs unwahrscheinliche, aber rührende Annäherung eines Rollstuhlpatienten und seines Betreuers. Und ähnlich wie in Wolfgang Herrndorfs Jugendkultbuch „Tschick“ begeben sich die Protagonisten auf eine Reise ins Ungewisse und durchlaufen einen Reifeprozess.

Der Autorenname klingt nach einer weiblichen Autorin, doch geschrieben hat das Buch der männliche italienische Schriftsteller Gabriele Clima. 2016 wurde „Der Sonne nach“ im italienischen Original veröffentlicht, 2019 erschien es in deutscher Übersetzung.

Ob die Schüler mit der modernen Pflichtlektüre, der knackigen Sprache und den kurzen Sätzen zufriedener sind als jene Gymnasiasten, die über ihre jahrhundertealten Texte stöhnen?

Die Meinungen gehen auch hier auseinander, wie Schülerrezensionen auf diversen Netzseiten zeigen. „Viele Stellen im Buch waren sehr unrealistisch dargestellt“, lautet eine Klage. „Ich musste das Buch in der Realschule 10. Klasse lesen und muss sagen, ich fand das Niveau passender für eine 7. Klasse.“

Dreieinhalb Stunden Zeit für die Analyse von „Der Sonne nach“

Die Palette der Urteile junger Leser reicht von „Das interessiert keinen“ bis zu: „Die Geschichte ist wunderschön, herzerwärmend, leicht, regt aber auch zum Nachdenken an. Die Entwicklung der beiden Jungs ist nicht zu bestreiten.“

Der ironische Kommentar eines anderen Lesers: „Ich finde gut, dass die Hauptdarsteller kiffen und so ein normales Leben eines Jugendlichen zeigen.“ Denn auch solche Szenen gibt es: Der unangepasste Dario lässt den schwerbehinderten Andy an Haschisch schnuppern und raucht dann selbst genüsslich einen Joint.

Egal, wie die Schüler zu der Lektüre stehen: Bei der Deutsch-Prüfung an diesem 8. Juni bleibt Hauptschülern dreieinhalb Stunden Zeit, den Realschülern vier Stunden, um zwei Pflichtteile und eine Wahlaufgabe zu lösen. Wegen der schwierigen Bedingungen im Corona-Seuchenjahr bekommen die Schüler im Vergleich zu seuchenfreien Zeiten eine Dreingabe von 30 Minuten.

„Ich finde es gut, dass man nur an den äußeren Gegebenheiten etwas geändert hat, aber nicht an den Prüfungen selbst“, meint dazu Karin Broszat, Landesvorsitzende des Realschullehrerverbandes (RLV). Ihr ist es wichtig, dass den Schülern nicht der Ruf eines Corona-Notabschlusses anhängt, sondern dass sie am Ende eine vollwertige Mittlere Reife, einen vollwertigen Hauptschulabschluss in der Tasche haben: „Das haben die Schüler auch verdient.“

Realschul-Verband unglücklich über System

Rund 44.000 Schüler schreiben diese Woche in Baden-Württemberg die Klausuren für die Mittlere Reife und 6.000 für den Werkrealschulabschluss. Weitere 23.000 Schüler streben den Hauptschulabschluss an – von ihnen besuchen allerdings nur rund 7.700 eine klassische Hauptschule oder eine Werkrealschule.

Etwa 8.000 der Hauptschulabsolventen besuchen nach Angaben des Stuttgarter Kultusministeriums eine Gemeinschaftsschule, rund 3.600 besuchen sogenannte Verbundschulen – und 3.800 Mädchen und Jungen machen auf der Realschule ihren Hauptschulabschluss.

„An meiner Schule haben wir dieses Jahr 140 Prüflinge, davon machen elf den Hauptschulabschluss“, sagt RLV-Chefin Broszat, die eine Realschule in Überlingen leitet. Bereits zum dritten Mal bieten die Realschulen im Land auch die Hauptschul-Abschlussprüfungen an – für Schüler, die das Ziel Mittlere Reife nicht erreichen. Obwohl sich inzwischen Routine eingestellt hat, sind Broszat und ihre Kollegen mit dieser Zweigleisigkeit immer noch unglücklich.

Gerade die schwächeren Schüler müssten stärker gefördert werden.
Karin Broszat, Vorsitzende des Realschullehrerverbands

„Die Prüfung selbst ist für uns kein Problem – aber der Weg dahin“, sagt sie. „Gerade die schwächeren Schüler müssten stärker gefördert werden.“ Letzteres aber sei im jetzigen System nicht optimal möglich – wenn Schüler mit sogenannten M-Niveau (Mittlere Reife) und G-Niveau (Grundniveau in Richtung Hauptschulabschluss) oft gemeinsam unterrichtet werden.

„Mit unseren diesjährigen elf Hauptschul-Prüflingen konnten wir eine eigene Klasse bilden“, erzählt Broszat, „doch in den folgenden zwei Stufen haben wir gemischte Klassen.“ Das hänge jeweils von den Klassenstärken und den zur Verfügung stehenden Lehrerstunden ab.

Broszat ist davon überzeugt, dass es Schüler belastet, wenn sie zu einer kleinen Minderheit an einer Schule zählen, die einen anderen Abschluss ablegt als die große Mehrheit. Der Realschullehrerverband hat gemeinsam mit den Gymnasiallehrern vom Philologenverband gerade wieder die Rückkehr zur verbindlichen Grundschulempfehlung gefordert.

Beide Verbände verfechten die Ausbildung in Lerngruppen auf möglichst einheitlichem Niveau. Dass sie damit bei der neuen Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) auf offene Ohren stoßen – darauf hoffen sie allerdings nicht ernsthaft.

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