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Angst vor Ächtung

In Konstanz diskutieren Juristen und Wissenschaftler über die Frage, was man noch sagen darf

Nur noch eine Minderheit der Deutschen glaubt, alles frei sagen zu dürfen. Dabei gehört die Meinungsfreiheit zu den Grundrechten. In Konstanz diskutieren Juristen und Wissenschaftler, wie es dazu kommen konnte.

Hans-Georg Maaßen (l), CDU-Direktkandidat und Ex-Verfassungsschutz-Chef, trifft Thilo Sarrazin (r), früheres SPD-Mitglied und Politiker, bei einer Wahlkampfveranstaltung im Saal Simson des Congress Centrum Suhl. Maaßen bewirbt sich in Südthüringen um ein Direktmandat bei der Bundestagswahl am 26. September. +++ dpa-Bildfunk +++
Opfer des Mainstreams? Hans-Georg Maaßen (links) und Thilo Sarrazin (rechts) gelten als Beleg dafür, dass man in Deutschland nicht mehr alles sagen darf. Foto: Martin Schutt/dpa

Thilo Sarrazin trat vorzeitig als Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank zurück und wurde aus der SPD ausgeschlossen. Hans-Georg Maaßen verlor seinen Job als Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, zudem läuft gegen ihn ein Ausschlussverfahren aus der CDU.

Die Grünen wollten, wenn auch vergebens, den Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer loswerden. Und der Berliner „Tagesspiegel“ und sein Kolumnist Harald Martenstein gingen getrennte Wege.

Opfer des links-grünen Mainstreams

Die vier Fälle haben bei allen Unterschieden eines gemeinsam: In gewissen Kreisen werden Sarrazin, Maaßen und Co geradezu als „Märtyrer“ gefeiert. Sie seien Opfer einer links-grünen Meinungsmacht in den Medien und der Öffentlichkeit geworden, weil sie unbequeme Wahrheiten sagten, die auszusprechen verboten sei, heißt es.

Wer nicht dem Mainstream folge, den eine kleine Minderheit in der Politik und den Medien definiere und mit aller Gewalt durchsetze, werde geächtet und verfolgt.

Die Angst vor der Abweichung

Ähnliches behaupten auch der Soziologe Harald Welzer und der Philosoph Richard David Precht in ihrem jüngst erschienenen Buch „Die vierte Gewalt“.

Das in den Medien veröffentlichte Meinungsbild stimme schon lange nicht mehr mit der tatsächlichen öffentlichen Meinung überein, so ihre These.

Das entstehe dadurch, dass die Meinungsmacher nur noch die eigenen Echokammern einer Szene abbilden, die stets darauf blicke, was gerade angesagt sei – und seien gleichzeitig voller Angst, davon abzuweichen.

Nur noch 37 Prozent glauben, alles sagen zu dürfen

Aber darf man in Deutschland wirklich nicht mehr alles sagen? Gilt die in Artikel 5 des Grundgesetzes als Grundrecht geschützte Meinungsfreiheit nicht mehr? Gibt es eine „von oben“ verordnete oder aus Furcht vor Ausgrenzung dominierende Einheitsmeinung, der sich alle unterzuordnen haben?

Die Zahlen legen das nahe. Sagten 1990 in Umfragen noch 78 Prozent der Deutschen, man könne seine Meinung frei sagen, waren es 2022 nur noch 37 Prozent. Im Gegenzug bekannten 48 Prozent, im Diskurs vorsichtig zu sein und die eigene Position in der Öffentlichkeit lieber nicht zu bekunden.

Es gibt Minenfelder, die man nicht mehr betreten will.
Thomas Petersen, Institut für Demoskopie Allensbach

„Es gibt dem Anschein nach zunehmend Minenfelder in der politischen Diskussion, die man nicht mehr betreten will“, bringt Thomas Petersen, Projektleiter vom Institut für Demoskopie Allensbach, am Donnerstag beim „Konstanzer Symposium“ des baden-württembergischen Justizministeriums diese Entwicklung auf den Punkt.

Der Mensch will unter Gleichgesinnten sein

Gleichwohl sei dieser Befund nicht neu, so Petersen. So habe Elisabeth Noelle-Neumann, die Gründerin des Allensbacher Instituts, schon nach der Bundestagswahl 1965 den Begriff der „Schweigespirale“ geprägt – Menschen würden sich bei ihrer Meinungsbildung an der Meinung der anderen orientieren und im Zweifelsfall aus Angst vor einer gesellschaftlichen Isolation lieber schweigen. Vom „Verstummen unter Isolationsdruck“ spricht Petersen. Der Mensch wolle unter Gleichgesinnten sein.

Zum Problem werde es allerdings, wenn die Meinung einer Minderheit ein derartiges Gewicht bekomme, dass sie der gesellschaftlichen Mehrheit aufgedrückt werde.

Dann fühle sich die Mehrheit unterdrückt. So halten nach aktuellen Zahlen seines Instituts 71 Prozent das Gendern für übertrieben, 77 Prozent wollen weiter „Zigeunerschnitzel“ und „Mohrenkopf“ sagen und 55 Prozent glauben, andere wollten ihnen eine neue Sprachregelung aufdrücken.

Aufgabe der Medien ist es, für ein freies Meinungsklima zu sorgen.
Christoph Degenhart, em. Professor für Staatsrecht

Der Meinungsforscher Petersen wie der frühere Leipziger Professor für Staats-, Verwaltungs- und Medienrecht, Christoph Degenhart, verweisen in diesem Zusammenhang auf die ambivalente Rolle der Medien.

Einerseits seien sie in einer Demokratie unverzichtbar, andererseits würden sie aber auch aus einer Position der moralischen Überheblichkeit die „Bedingungen des Sagbaren“ (Degenhart) definieren. So entstehe ein „Klima der Intoleranz gegen abweichende Meinungen“. Aufgabe der Medien sei es nicht, Meinungen vorzugeben, sondern für ein „freies Meinungsklima“ zu sorgen.

Selbst abstruse und falsche Meinungen sind zulässig

Nach den Worten des Rechtswissenschaftlers gebe es daher einen zunehmenden Widerspruch zwischen dem im Grundgesetz geschützten Grundrecht auf Meinungsfreiheit und der gesellschaftlichen Realität. Und das, obwohl die Gerichte vom Amts- über die Verwaltungs- bis zum Bundesverfassungsgericht im Regelfall zugunsten der Meinungsfreiheit entscheiden würden und den Rahmen sehr weit gesteckt hätten.

Selbst „abstruse und falsche Meinungen“ seien zulässig. In der Gesellschaft hingegen gebe es große Angst vor Sanktionen bis hin zu Nachteilen im Beruf, bestätigt der Wissenschaftler den Befund des Demoskopen.

In Autokratien geben Machthaber die Regeln vor

Nach den Worten des Allensbacher Meinungsforschers Petersen ist allerdings die Diskussion, was man sagen darf und wie man es sagen darf, für eine demokratische Gesellschaft unabdingbar. I

n autokratischen Systemen würden die Machthaber die Regeln vorgeben, an die sich alle zu halten hätten. „In einer Demokratie müssen die Regeln und die Normen des Zusammenlebens immer wieder neu definiert werden.“ Das gelinge nur im Diskurs. „Der Preis für die Abschaffung dieser Debatte wäre das Ende der Freiheit.“

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