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Nachkriegszeit

Land geht auf Leid in Behindertenhilfe und Psychiatrien ein

Psychiatrien und Behindertenstationen wurden nach dem Krieg vor allem an die Stadtränder gebaut, oft auch mitten aufs Land. Dort und damit am Rande der Gesellschaft wurden Kinder und Jugendliche als Patienten zu Opfern. Das Land hat nun für ihr Leid um Entschuldigung gebeten.

Das baden-württembergische Landesarchiv in Stuttgart.
Archive wie das baden-württembergische Landesarchiv in Stuttgart, übernehmen eine tragende Rolle in der Aufarbeitung von Unrechtskomplexen. Foto: picture alliance / dpa/Archivbild

Über viele Jahrzehnte sind Kinder und Jugendliche in baden-württembergischen Behinderteneinrichtungen und Psychiatrien gequält, geschlagen und falsch behandelt worden. Sie seien zwischen 1949 und 1975 weniger Opfer des Systems als vielmehr der gesellschaftlichen Zustände geworden, sagte Gerald Maier, Präsident des Landesarchivs, zum Abschluss des nach seinen Angaben bundesweit ersten Dokumentationsprojekts zu diesem Thema. Landessozialminister Manne Lucha bat Betroffene im Namen der Landesregierung um Entschuldigung für „unfassbares Leid und Unrecht“.

Auch in Baden-Württemberg habe es massive Missstände gegeben, sagte der Grünen-Minister am Mittwoch, 30. März. Sie zeigten, dass Kinder und Jugendliche stärker beteiligt und ihre Ängste und Sorgen ernst genommen werden müssten. „Dies gilt vor allem dann, wenn sich Kinder und Jugendliche in Abhängigkeit befinden und verstärkt auf Fürsorge und Unterstützung der Erwachsenen angewiesen sind“, sagte Lucha.

Als Beispiel für die Schicksale jener Zeit beschreibt er die Erlebnisse eines dreijähriges Mädchens, das in den 1960er Jahren in ein Heim für gehörlose Kinder in Heidelberg kam, weil seine Eltern überfordert waren. „Was dann passiert, kann und will sich niemand vorstellen“, sagte der online zugeschaltete Lucha bei der Abschlusstagung zum Projekt im Landesarchiv. „Dieses Kind wird gerüttelt, geschüttelt, gefüttert, es wird geschlagen, wenn die Kleidung nicht ordentlich sitzt, die Haare nicht richtig gekämmt und die Zähne nicht gut genug geputzt sind.“ Es habe auch sexuelle Übergriffe gegeben. „Und dieser Fall ist leider kein Einzelfall.“

Dokumentationsprojekt Zwangsunterbringung

Das Leiden des Mädchens ist nur eines der Beispiele, die das Landesarchiv Baden-Württemberg im Rahmen des „Dokumentationsprojekts Zwangsunterbringung“ drei Jahre lang recherchiert und zusammengetragen hat. Ziel sei es gewesen, mehr zu erfahren über Menschen, die in ihrer Kindheit zwischen 1949 und 1975 in Heimen der Behindertenhilfe und in Psychiatrien untergebracht waren, sagte Nora Wohlfahrt vom Landesarchiv. Der Blick in die Akten zeige, dass die Kinder auf ihre – angeblichen – Defizite reduziert worden seien. Die Förderung sei oft nicht angemessen gewesen, es sei missbraucht und falsch behandelt worden, das Klagen der jungen Menschen sei übergangen worden.

„Es hat auch Fehlplatzierungen gegeben, Kinder kamen in die Erwachsenenstationen, gesunde Kinder in die Behinderteneinrichtungen“ erzählt Corinna Keunecke, Historikerin am Archiv und ebenfalls Mitarbeiterin beim Projekt. Gehörlosen Menschen verbot man das Gebärden und legte den Schwerpunkt teils mit körperlicher Gewalt auf das Vermitteln der Lautsprache, wie es weiter hieß. „Man zog sie sogar an der Zunge, um sie zum Sprechen zu bringen“, sagte Keunecke. „Ich war zu Tränen gerührt auch darüber, wie die Betroffenen noch heute darunter leiden.“

Man zog sie sogar an der Zunge, um sie zum Sprechen zu bringen.
Corinna Keunecke, Historikerin

Die Liste der Gründe für das heute schwer nachzuvollziehende Verhalten ist lang: „Es gab damals ein anderes Verständnis dafür, wie man mit Menschen umgeht“, sagte Landesarchiv-Chef Maier. Auch habe es zu wenig Personal und viel zu wenig Platz gegeben, die psychiatrische Behandlung sei nicht ausgereift und die Finanzierung viel zu gering gewesen. „Man muss da wirklich von einer prekären Situation sprechen“, sagte Wohlfahrt. „Und das im wahrsten Sinne am Rande der Gesellschaft.“

Aufarbeitung bei 190 Betroffenen

Seit Anfang 2017 können Betroffene bei der „Stiftung Anerkennung und Hilfe“ eine Geldpauschale und Rentenersatzleistungen beantragen. Nach Angaben des Landesarchivs wurden seit 2019 knapp 190 Betroffene befragt, die Nachweise oder Akten vor allem für solche Anträge suchten. „Und alle, die sich bei uns gemeldet haben, haben Leid und Unrecht erfahren“, sagte Wohlfahrt. Die Dunkelziffer der Zeitzeugen sei zudem sehr groß. Viele hätten sich sicher nicht gemeldet, weil es nach wie vor schwer für sie sei, sich mit dem Thema und der Scham auseinanderzusetzen.

Maier bezeichnete die von der Baden-Württemberg Stiftung geförderte Dokumentation als „bundesweites Leuchtturmprojekt“. „Archive übernehmen eine tragende Rolle bei der Aufarbeitung von Unrechtskomplexen. Man muss die Forschung aber auch verstetigen. Das ist ja ein gesellschaftliches Dauerthema“, sagte er. So ähnelten Erfahrungen, die eine Frau aus den 1980er Jahren im Gespräch beschrieb, denen aus den 1950er Jahren sehr.

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