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Tödlicher Aberglaube

„Nur ein Gen“: Heidelberger Forscherin will Gewalt gegen Menschen mit Albinismus stoppen

Menschen mit der seltener Erkrankung Albinismus werden in Afrika nicht selten angefeindet und müssen in manchen Ländern um ihr Leben fürchten. Die Heidelberger Humangenetikerin Gudrun Rappold möchte das ändern.

Opfer von Aberglauben: In einigen Regionen Afrikas werden gelegentlich Albino-Kinder entführt oder verstümmelt, weil ihre Gliedmaßen als Bestandteile einer angeblichen „Zaubermedizin“ Wunder bewirken und Glück bringen sollen.
In einigen Regionen Afrikas werden gelegentlich Albino-Kinder entführt oder verstümmelt, weil ihre Gliedmaßen als Bestandteile einer angeblichen „Zaubermedizin" gelten. Foto: Sia Kambou / AFP

Was wie ein Protestaufmarsch beginnt, endet in einem Massaker. Als Ende August etwa 500 wütende, teils bewaffnete Menschen eine Polizeiwache im Städtchen Ikongo auf Madagaskar umzingeln, eröffnen die Beamten das Feuer. Binnen Minuten sind 19 Menschen tot, 21 verwundet. Die Behörden erklären das harte Vorgehen mit der Notwendigkeit, Lynchjustiz zu verhindern. Die Angreifer hatten die Herausgabe von vier festgenommenen Männern gefordert, die zuvor ein Albino-Kind entführt und dessen Mutter ermordet haben.

Immer wieder werden Betroffene mit der Krankheit Albinismus in manchen Ländern Afrikas angefeindet, diskriminiert, entführt, verstümmelt und getötet. Die häufigsten Gründe dafür sind Aberglaube und Angst vor den angeblichen „Geistern“ in Menschengestalt. Aber auch Geschäftsinteressen sind im Spiel. Auf dem Kontinent gibt es einen kriminellen Handel mit Körperteilen, Haaren und Haut von „weißen Schwarzen“, die angeblich magische Kräfte besitzen und als „Zaubermedizin“ nicht nur Krankheiten heilen, sondern auch Glück bringen würden.

„Weiße Schwarze“ sind gefährdet

Seit 2006 haben die Vereinten Nationen fast 800 Angriffe auf Menschen mit Albinismus in 28 afrikanischen Ländern dokumentiert. Die Dunkelzahl dürfte jedoch vielfach höher sein. Alleine in Malawi mit rund 19 Millionen Einwohnern wurden seit 2014 mindestens 24 solcher „weißen Schwarzen“ getötet. Nach UN-Angaben nahmen in der Corona-Pandemie die rituellen Morde in Afrika spürbar zu, weil „sich manche verarmten Menschen der Hexerei zuwandten, in der Hoffnung, etwas Geld machen zu können“.

Die Heidelberger Humangenetikerin Gudrun Rappold hat eine Infobroschüre über Albinismus geschrieben.
Bildungsprojekt in Afrika: Die Heidelberger Humangenetikerin Gudrun Rappold hat eine Infobroschüre über Albinismus geschrieben, mit der sie für Aufklärung in vielen schulen auf dem Kontinent sorgen will. Foto: Klaus Tschira Stiftung

Gudrun Rappold will sich damit nicht länger abfinden. „Dieser Aberglaube entbehrt jeglicher Vernunft. Die Genetik kennt Befunde, die vielen Menschen offensichtlich noch nicht bekannt sind, und ich möchte sie erklären“, sagt die 68-jährige Seniorprofessorin der Universität Heidelberg. Rappold hat eine Broschüre über Albinismus verfasst, die demnächst in vielen afrikanischen Schulen verteilt werden wird. Nach ihrer Idee soll das in einfachen Worten geschriebene Büchlein „Albinism – just a Gene!“ dafür sorgen, dass die Kinder nicht auf Geister-Mythen hereinfallen und Aufklärung in ihre Familien tragen.

Forscherin singt im afrikanischen Chor

„Ich liebe Afrika“, sagt Gudrun Rappold, die seit 15 Jahren immer wieder den Kontinent bereist. Die Badenerin singt in einem afrikanischen Chor und sammelt Spenden, um arme Dörfer zu unterstützen. Im Gespräch mit dieser Zeitung erzählt Rappold, wie sie einmal auf einer ihrer Reisen von Kindern mit Albinismus gehört habe, die laut den Einheimischen eine „Verbindung mit dem Wasser“ hätten. So habe man ihr zu verstehen gegeben, dass die andersartigen Neugeborenen ertränkt würden.

„Das hat mich schockiert. Ich habe das recherchiert: Es war tatsächlich so“, erzählt die Wissenschaftlerin. Sie habe mehrfach von Behörden gehört, dass viele Menschen mit Albinismus in Afrika verschwinden würden. „Es gibt auch Berichte von Tätern, die nachts in die Hütten eindringen und den Kindern die Gliedmaßen abhacken. Sie werden dann zerteilt und als Amulette verkauft.“

Abgehackte Gliedmaßen von Kindern werden zerteilt und als Amulette verkauft.
Gudrun Rappold, Humangenetikerin aus Heidelberg

Albinismus ist eine genetische Erkrankung, die dazu führt, dass der Körper das Pigment Melanin nicht bilden kann. Die Betroffenen fallen nicht nur durch ihr blasses Äußeres auf, sie sehen auch in vielen Fällen schlecht, haben sehr sonnenempfindliche Augen und können häufig Hautkrebs entwickeln. Wie eine Selbsthilfeorganisation in Tansania einmal ermittelt hat, erreichen 80 Prozent der Menschen mit der Pigmentstörung im Land nicht ihr 30. Lebensjahr – wegen des hohen Gesundheitsrisikos und weil sie als „vogelfrei“ gelten.

Nach UN-Angaben leiden weltweit eine Million Menschen an Albinismus. Die Erkrankung kommt in den USA und Europa relativ selten vor: bei einem von 20.000 Menschen. Südlich der Sahara ist dieser Anteil jedoch mit 1:2.000 bis 3.000 deutlich höher, was Gudrun Rappold unter anderem mit verbreiteten Beziehungen unter Verwandten erklärt, die in ihrem Erbgut das Albinismus-Gen tragen würden. „Dieses Gen wird rezessiv vererbt“, erklärt die Forscherin. „Das heißt, beide Eltern sind zwar Anlageträger des defekten Gens, haben aber keine Pigmentstörungen, da das zweite, normale Gen dominant wirkt. Nur wenn beide Eltern das mutierte Gen an ihr Kind weitergeben, kann es erkranken.“

Nur wenn beide Eltern das mutierte Gen an ihr Kind weitergeben, kann es erkranken.
Gudrun Rappold, Humangenetikerin

Rappold erzählt von Frauen in Kenia, Malawi und Tansania, die nach der Geburt ihrer Albino-Kinder ausgegrenzt und verstoßen würden, weil sie der Untreue verdächtigt werden. Manche würden dafür bedroht, dass sie sich mit „weißen Geistern“ eingelassen hätten. „Es ist wichtig, die Grundzüge der Genetik zu verstehen“, betont die Heidelberger Professorin. Darum habe sie mit Unterstützung der Klaus Tschira Stiftung das afrikanische Aufklärungsprojekt angestoßen.

Kinder sollen ihre Eltern aufklären

Ihre 23-seitige Broschüre über Ursachen und Symptome des Albinismus beginnt mit den Worten „Alle Menschen sind gleich“ und beschränkt sich auf knappe, auch für Kinder verständlich formulierte wissenschaftliche Erklärungen. Das Vorwort hat Eva Luise Köhler, die Ehefrau des Ex-Bundespräsidenten, geschrieben. Das Zusammenspiel von Chromosomen und Bildung von Melanin wird in farbenfrohen Bildern dargestellt, die eine Illustratorin aus Kenia gezeichnet hat. Zum Schluss heißt es: „Du kannst es nun erklären, denn Du weißt es nun besser. Wer mehr weiß, kann mehr bewegen.“

Laut Rappold soll ihr Büchlein zunächst in sechs Sprachen erscheinen, später sollen es 26 sein. Ab Oktober wird das Infomaterial an Schulbibliotheken ausgeliefert, die zuständigen Gesundheitsbehörden sind mit an Bord. Auch mit einer Webseite will die Genetikerin bald für Aufklärung in Afrika sorgen. „Jedes Kind, das wir auf diese Weise retten können, wird unser Erfolg sein“, sagt sie hoffnungsvoll.

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