Skip to main content

Fachkräftemangel in Kindergärten

„Es war noch nie schlimmer“ – Kitas in Baden-Württemberg arbeiten am Anschlag

Kitas leiden seit Jahren unter Fachkräftemangel. Aber nun sei die Lage so dramatisch wie nie, klagt der Fachverband VBE. Die Erzieher könnten ihrer Aufsichtspflicht nicht mehr nachkommen. Ist das Kindeswohl gefährdet?

ARCHIV - 15.03.2019, Baden-Württemberg, Stuttgart: Kinder rennen in einer Kindertagesstätte einen Gang entlang. (zu «Pk Verband Bildung und Erziehung stellt Landesergebnisse der Studie Deutscher Kitaleitungskongress vor») Foto: Sebastian Gollnow/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Kitas in Not: Personalsuche ist in Baden-Württemberg schwierig. Foto: Sebastian Gollnow/dpa

Es ist nichts anderes als ein Schrei nach Hilfe: Viele Kitas im Land arbeiten einer Studie zufolge personell so sehr am Anschlag, dass sie Betreuung und Sicherheit der Kinder kaum noch gewährleisten können. Diesen Schluss zieht der Verband Bildung und Erziehung (VBE) aus einer breiten Umfrage unter Kitaleitern in Baden-Württemberg. „Es war noch nie schlimmer“, sagte der Landesvorsitzende Gerhard Brand am Montag in Stuttgart. Doppelt so viele Kitas wie noch vor einem Jahr müssten mit einer „für das Kindeswohl gefährlichen Personalunterdeckung arbeiten“. Der Verband fordert eine Fachkräfteoffensive – und 80 000 zusätzliche Stellen.

Die Personalnöte seien mittlerweile so gravierend, dass Erzieher die Kinder nicht mehr so beaufsichtigen könnten wie vorgeschrieben. Demnach ist bei einem Drittel aller Kitas an mindestens vier von zehn Arbeitstagen nicht einmal mehr eine Minimalbesetzung vorhanden, die gemäß den Vorgaben notwendig ist, um der Aufsichtspflicht nachzukommen. Die Verantwortlichen müssten jetzt unbedingt handeln, fordert Brand. „Jede weitere Verschiebung wäre unterlassene Hilfeleistung.“ Für eine Betreuung in angemessener Qualität brauche es fast doppelt so viel pädagogisches Personal wie derzeit in den Einrichtungen vorhanden sei.

Brand berichtet von einer Kita in Stuttgart, in der, nachdem bereits zwei Erzieherinnen erkrankt waren, sich eine weitere Fachkraft Corona einfing. Die Einrichtung musste notgedrungen schließen, sonst hätte man die Kinder mit einer Auszubildenden und einer Praktikantin alleine lassen müssen. „Die Eltern haben jetzt ein Problem“, sagt der VBE-Chef. Drei, vier, fünf Kita-Leiter riefen ihn jede Woche an und teilten ihm mit, dass sie schließen müssten, weil es nicht mehr anders gehe. „Wenn wir nicht mehr Personal an den Kindertagesstätten bekommen, werden wir Kindertagesstätten schließen müssen.“

Personalmangel in den vergangenen zwölf Monaten verschärft

Allein aus Baden-Württemberg haben rund 2000 Kita-Leitungen an der Studie teilgenommen – damit stammen die meisten der insgesamt 4827 Teilnehmer aus dem Südwesten. Die Zahlen belegen eine dramatische Zuspitzung der Lage. Ausgewählte Ergebnisse im Detail: Acht von zehn Kita-Leitungen (83 Prozent) berichten, dass sich der Personalmangel in den vergangenen zwölf Monaten verschärft hat und es noch schwieriger geworden ist, offene Stellen mit passenden Bewerberinnen und Bewerbern zu besetzen; 2021 waren es 70 Prozent. 16 Prozent aller Kitas (2021: 8 Prozent) haben in den vergangenen zwölf Monaten in mehr als der Hälfte der Zeit „mit erheblicher Personalunterdeckung unter Gefährdung der Aufsichtspflicht“ arbeiten müssen.

„Mit Blick auf die enorme Bedeutung der frühkindlichen Bildung für die gesamte Bildungsbiografie von Kindern ist dies eine einzige Katastrophe“, konstatiert Brand. Viele Träger stellten aus der Not heraus Personal ein, das nicht mehr „passgenau“ sei. „Wir sollten gut ausgebildetes Personal haben und nicht Personal, das bei drei nicht auf den Bäumen ist.“

ARCHIV - 20.10.2017, Baden-Württemberg, Mannheim: Ein Mädchen spielt in einer Kita mit bunten Bechern und Bauklötzen. (zu «Pk Verband Bildung und Erziehung stellt Landesergebnisse der Studie Deutscher Kitaleitungskongress vor») Foto: Uwe Anspach/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Der empfohlene Normwert für das Verhältnis Erzieher zu Kindern ist deutlich überschritten. Foto: Uwe Anspach/dpa

Für das Verhältnis Erzieher zu Kindern gibt es wissenschaftliche Empfehlungen – im Ü-3-Bereich, also bei der Betreuung älterer Kita-Kinder, liegt sie bei 1 zu 7,5. Im Südwesten wird dieser Normwert in sieben von zehn Kitas gerissen. An 27 Prozent der Kitas im Ü-3-Bereich muss eine einzige Fachkraft sogar zwölf oder mehr Kinder betreuen.

Im U-3-Bereich, in dem verlässliche Bindungen und Beziehungen für die Entwicklung besonders wichtig sind, sollte sich ein Betreuer um drei Kinder kümmern. Tatsächlich liegt die Quote hier in vier von zehn Kitas bei 1 zu 5 und schlechter. In 13 Prozent der Kitas betreut eine Fachkraft sogar acht oder mehr U-3-Kinder.

Hohe Arbeitsbelastung führt zu Gesundheitsgefahren

Die Erzieher fühlen sich der Umfrage zufolge trotz der Belastungen von ihrem Umfeld wertgeschätzt – von Kollegen, vom Träger, von den Eltern und ganz besonders von den Kindern. Nur mit Blick auf die Politik sehen die Pädagogen das anders: Acht von zehn Kita-Leiterinnen spüren der Umfrage zufolge keine oder nur eine geringe Wertschätzung der Landes- und Bundespolitik.

Neun von zehn Kitaleitungen berichten, dass die hohe Arbeitsbelastung der Erzieherinnen und Erzieher zu höheren Fehlzeiten und Krankschreibungen führt. An sieben von zehn Kitas gibt es demnach kein Konzept zur Gesundheitsprävention für das pädagogische Fachpersonal. Zwei Drittel der Kita-Leitungen fühlen sich psychisch belastet. Einige geben an, sich zur Arbeit zu schleppen, obwohl sie sich nicht arbeitsfähig fühlen.

Trotz aller angekündigten Fachkräfteoffensiven hat sich die Problemlage nicht verbessert.
Gerhard Brand, VBE-Landesvorsitzender

„Trotz aller angekündigten Fachkräfteoffensiven hat sich die Problemlage nicht verbessert, sondern im Gegenteil noch weiter zugespitzt“, sagt VBE-Landeschef Brand. Der Handlungsdruck sei nun massiv – erst recht mit Blick Herausforderungen wie die Integration oft traumatisierter Flüchtlingskinder aus der Ukraine. Diese seien in der Studie noch gar nicht „eingepreist“. Brand thematisierte auch die Fachkräfte-Konkurrenz aus dem Grundschulbereich und den Rechtsanspruch auf Ganztagesbetreuung für Kinder im Grundschulalter ab 2026.

Der VBE fordert deshalb eine landesweite Fachkräfteoffensive und kräftige Investitionen ins Kita-Personal. Geld sei trotz Corona und Ukraine-Krieg genug da, wie die jüngste Steuerschätzung gezeigt habe, sagt Brand. Der Erzieher-Job müsse attraktiver werden. Die Einkommen seien zwar gestiegen in den vergangenen Jahren, aber von einem extrem niedrigen Niveau kommend. Brand schlug auch vor, dass Kommunen die Kita-Leiter bei Verwaltungsaufgaben unterstützen könnten.

Die Bildungsgewerkschaft GEW fordert eine Kampagne, um den Arbeitsplatz Kita attraktiver zu machen. Die Verantwortlichen von Land, Kommunen und freien Trägern hätten es in der Hand, Kita-Gruppen kleiner zu machen, mehr für den Gesundheitsschutz zu investieren und mehr Vor- und Nachbereitungszeit zu ermöglichen, sagte die Landesvorsitzende Monika Stein.

Bis 2025 werden zusätzlich schätzungsweise 40.000 Erzieher gebraucht

Sie schätzt, dass bis 2025 zusätzlich 40 000 Erzieherinnen und Erzieher gebraucht werden. „Wenn ein großer Automobilkonzern sagen würde, dass er seine Produktion wegen Fachkräftemangel einstellen wird, könnte man sich sicher sein, dass am nächsten Tag der Ministerpräsident vor der Tür steht, Unterstützung und einen Strategiedialog anbietet.“

Und das zuständige Kultusministerium? Spricht von einer „großen Herausforderungen für alle Beteiligten“. Man stehe in engem Austausch mit Kommunen und Gewerkschaften, um die Situation auf dem Fachkräftemarkt kurz- und langfristig anzugehen, sagte CDU-Staatssekretär Volker Schebesta. Das Berufsfeld müsse langfristig attraktiver gemacht werden. „Es sollte aber nicht vergessen werden, dass Kindertageseinrichtungen schon jetzt sogenannte Zusatzkräfte einstellen können, die für Entlastung sorgen können.“

nach oben Zurück zum Seitenanfang