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Schwerbehinderte in der Pandemie

Schutznetz mit Lücken: Corona-Impfungen nicht in allen Pflegeheimen

In der Region wird ein Teil der Bewohner in Pflegeheimen für schwerbehinderte und vulnerable Menschen noch nicht gegen Corona geimpft. Betroffene werfen der Landesregierung Willkür und Diskriminierung vor.

Problematische Differenzierung: Welche Pflegeheime in Baden-Württemberg von mobilen Impfteams besucht werden, richtet sich nach dem Sozialgesetzbuch – Betroffene empfinden das als Willkür.
Problematische Differenzierung: Welche Pflegeheime in Baden-Württemberg von mobilen Impfteams besucht werden, richtet sich nach dem Sozialgesetzbuch – Betroffene empfinden das als Willkür. Foto: Sebastian Gollnow picture alliance/dpa

„Ich bin verzweifelt“, sagt am Telefon Peter Jany. „Wenn ich an meinen Sohn in Lebensgefahr denke, kocht die Wut hoch“. Anfang Januar schickte der 62-jährige Patentanwalt aus Waldbronn einen Brief an Gesundheitsminister Jens Spahn. Als die Antwort ausblieb, kontaktierte der besorgte Vater die BNN.

„Man könnte vermuten“, schrieb Jany in dem zweiten Brief, „dass die Menschen, die zur Hochrisikogruppe gehören, vorsätzlich einem Sterberisiko ausgesetzt werden sollen“.

Menschen mit Behinderungen bemängeln fehlenden Corona-Schutz

Es ist ein schwerer Vorwurf. Aber er rückt ein nicht minder schwieriges Thema ins Licht, das derzeit viele bewegt: In der Corona-Pandemie kritisieren Schwerkranke und Menschen mit Behinderungen sowie deren Vertreter, dass sie durch das Raster der Schutzmaßnahmen fielen, während sich die Politik vorrangig auf die Sicherheit in den Seniorenheimen und die Covid-Impfungen von Älteren konzentriere.

Diese Vorwürfe sind nicht ganz aus der Luft gegriffen, wie der Fall Jany aus Waldbronn zeigt. Während in Baden-Württemberg zahlreiche stationäre Pflegeeinrichtungen mit behinderten und hochgradig gefährdeten Menschen bereits durchgeimpft wurden, sind Schwerbehinderte in anderen stationären Pflegeheimen weiterhin einem hohen Corona-Risiko ausgesetzt, weil die Mobilen Impfteams um diese Einrichtungen einen Bogen machen.

Vater hat Angst um seinen Sohn im Wachkoma

Fast jeden Tag fährt Peter Jany ins AWO-Haus Spielberg nach Karlsbad, um mit Dominik zu reden und seine Hand zu halten. Nach einem Verkehrsunfall liegt der 34-Jährige im Wachkoma. „Er kann nicht gehen, greifen oder kommunizieren – aber er reagiert ein bisschen auf die Umwelt“, erzählt sein Vater. Seit einem Jahr lässt ihn der quälende Gedanke nicht los, dass sein schwerbehinderter Sohn wohl nur geringe Überlebenschancen hätte, wenn er sich mit Sars-CoV-2 anstecken würde.

Die Corona-Impfung würde uns die Angst nehmen.
Peter Jany aus Waldbronn

„Die Corona-Impfung würde uns diese Angst nehmen“, sagt Peter Jany. „Es gab Ende Dezember einen Hoffnungsschimmer, leider wurde er jedoch zerstört.“

Am 27. Dezember erfuhr Frank Vischer, Leiter des Hauses Spielberg, dass seine Einrichtung in Kürze mit dem Impfen dran sei. Zwei Tage später hieß es: Fehler, Kommando zurück. Das Heim mit 25 geistig und körperlich schwer behinderten Bewohnern im Alter zwischen 19 und 66 Jahren wurde bei der Impfpriorisierung wieder herabgestuft und muss sich nun gedulden. Im Gespräch mit den BNN klingt Vischer enttäuscht: „Seit Beginn der Pandemie fallen Menschen mit Behinderungen hinten herunter, so wie wir jetzt. Man rennt gegen Wände an, es ist ein Grauen“.

Die vorhandene Impfstoffmenge diktiert, welche Heime zuerst drankommen.
Georg Spranz, Heimaufsicht im Landkreis Karlsruhe

Ein Anruf bei der Heimaufsicht des Landkreises Karlsruhe bringt Klarheit. „Die vorhandene Impfstoffmenge diktiert, welche Heime zuerst drankommen“, erklärt der Leiter Georg Spranz. Es würden zunächst ausschließlich Alten- und Pflegeheime geschützt, die ihre Leistungen über die Pflegeversicherung nach Sozialgesetzbuch (SGB) 11 abrechnen würden.

Das AWO-Haus Spielberg falle als eine Einrichtung der Eingliederungshilfe nach SGB 9 nicht in diese Kategorie und müsse deshalb auf bessere Zeiten warten. „Dass die Menschen dort genauso verletzlich und vulnerabel sind wie in einer vollstationären Pflegeeinrichtung, steht außer Frage“, bedauert Spranz. „Gäbe es nicht die Impfstoff-Knappheit, wäre diese Situation nicht entstanden.“

Pflegeheim ist nicht gleich Pflegeheim

Beim Corona-Schutz ist Pflegeheim also nicht gleich Pflegeheim. Die Impfverordnung des Bundes gibt diese Differenzierung unter Paragraf 2 („Schutzimpfungen mit höchster Priorität“) nicht her. Dort ist lediglich die Rede von „Personen, die in stationären Einrichtungen zur Behandlung, Betreuung oder Pflege älterer oder pflegebedürftiger Menschen... gepflegt werden“.

Nach BNN-Recherchen wird diese pauschale Vorgabe jedoch in Baden-Württemberg so interpretiert, dass ein Teil der Heime ausgeschlossen wird. In einer Antwort auf eine Anfrage unserer Zeitung rechtfertigt das Ressort des Landesministers Manne Lucha (Grüne) dies so: „Das Ministerium für Soziales und Integration richtet sich mithin nicht ,nach dem Wortlaut’ der CoronaImpfV, sondern nach der auf den Stiko-Empfehlungen (Ständige Impfkommission – d. Red.) basierten Intention der Verordnung“.

Erweiterungen des impfberechtigten Personenkreises sind nicht möglich.
Sozialministerium in Stuttgart

Dass die Bewohner im AWO-Haus Spielberg auch Pflegebedarfe hätten, sei offenkundig, räumt das Ministerium ein. Dennoch sieht es keinen Grund, die „stationäre Einrichtung der Eingliederungshilfe“ in ihrer Gesamtheit unter Paragraf 2 der Verordnung einzuordnen. Die Begründung: Pflegeheime, in denen Menschen mit geistiger Behinderung oder Demenz leben würden, hätten auch keinen Vorrang. Fazit: „Erweiterungen des impfberechtigten Personenkreises durch das Land sind nicht möglich.“

Peter Jany empfindet derlei Behördenlogik als Willkür und Diskriminierung. „Das ist extrem belastend“, sagt der Waldbronner, der sich nach eigenen Worten darauf vorbereitet hat, seinen Sohn aus der Vollpflege nach Hause zu nehmen, sollte die Corona-Gefährdung für ihn erheblich steigen.

Man muss hinschauen, wie vulnerabel eine Person ist
Mario Müller, Johannes-Diakonie Mosbach

Das Vorgehen bei der Impfpriorisierung finden auch Fachleute aus dem Pflegebereich fragwürdig. „Man muss hinschauen, wie vulnerabel eine Person ist. Wird es ihr zum Verhängnis, wenn sie in einem anderen Pflegeheim wohnt? Ich finde, dass viele Menschen mit körperlichen Einschränkungen in der Eingliederungshilfe auf die Corona-Impfungen angewiesen sind“, sagt etwa Mario Müller, Ausbildungsverantwortlicher für Karlsruhe bei der Johannes-Diakonie Mosbach.

„Die Unterscheidung nach SGB 9 und SGB 11 bei Corona-Impfungen kann keiner wirklich verstehen“, kritisiert Müller. „In manchen Bundesländern wie in Rheinland-Pfalz gibt es sie auch nicht. Darum wäre es sinnvoll, wenn die Landesregierung an dieser Stelle nachjustieren würde.“

Gleicher Versorgungsanspruch bei gleicher Gefährdungslage

Wenig Verständnis für die Impfregelung im Südwesten hat auch Jens Clausen, Medizinethiker an der PH Freiburg. „Die Impfstoffe sind ein knappes Gut, trotzdem müssen wir sie gerecht verteilen. Bei gleicher Gefährdungslage sollte gleicher Versorgungsanspruch gelten“, sagt der Experte. Eine pauschale Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen in der Pandemie kann Clausen jedoch nicht erkennen.

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