Es geht um Hunderttausende betroffene Fahrgäste, Tausende Kilometer fehlende Kabel und eine ziemlich verstimmte Landesregierung.
Mit nur einigen Wochen Vorlauf kündigte die Bahn jüngst weitreichende Streckensperrungen rund um Stuttgart an, losgehen soll es bereits im April. Was genau das für die Pendler in der Region bedeutet, ist noch nicht absehbar. Sicher ist aber: Es wird anstrengend für alle Betroffenen. So sehr, dass sogar der grüne Verkehrsminister für freie Fahrt auf den Straßen sorgen will.
Wenige Tage nach der Ankündigung zeigte sich die grün-schwarze Landesregierung zerknirscht – über das Ausmaß der Sperrungen an sich, aber auch über die Kommunikation der Bahn.
Den Verantwortlichen des Konzerns sei das alles peinlich und unangenehm, schilderte Landesverkehrsminister Winfried Hermann. Und FDP-Landeschef Michael Theurer sagte der dpa, er teile die Kritik der Landesregierung an der Kommunikation der Bahn „vollständig“.
Sophia Weimer und Oliver Schmale haben die wichtigsten Fragen und Antworten zusammengestellt.
Was genau hat es mit dem digitalen Knoten auf sich?
Im Zuge des Bahnhofsprojekts Stuttgart 21 soll die Region bis Ende 2025 der erste digitalisierte Bahnknoten (DKS) in Deutschland werden. Vom Fahrplanwechsel im Dezember 2025 an sollen die Züge des Fern-, Regional- und S-Bahnverkehrs auf einem mit neuer Technik ausgerüsteten Netz fahren. Es ist dann mit digitalen Stellwerken, dem Zugsystem ETCS und hochautomatisiertem Fahrbetrieb ausgerüstet. Laut Bahn soll damit die Kapazität des Schienennetzes gesteigert und die Qualität verbessert werden.
Was ist jetzt schiefgelaufen?
Für die Digitalisierung müssen Tausende Kilometer Kabel verlegt werden – allein im Bereich Waiblingen/Bad Cannstatt sind es rund 1.200 Kilometer. Außerdem müssen mehr als 70 neue Kabelquerungen unter Gleisen und in Bahnhöfen gebaut werden. Verkehrsminister Hermann zeigte sich auf der Landespressekonferenz in Stuttgart einigermaßen ratlos – immerhin rüste das Land schon seit einiger Zeit die Fahrzeuge entsprechend um, sagte der Grüne.
„Wir haben entsprechende Bestellungen gemacht für die Zukunft. Und dann wundert es einen schon, dass dann auf der Baustelle festgestellt wird: ,Wir brauchen Kabel.’“ Man habe offenbar unterschätzt, wie viele Kabel und in welchem Umfang – und welche Maßnahmen bautechnisch daraus resultierten.
Welche Strecken sind betroffen?
Die Kabelbauarbeiten, die nicht im laufenden Betrieb möglich sind, starten für das neue europäische Zugsicherungssystem ETCS am 21. April. Deshalb werden nach Angaben der Deutschen Bahn im Bereich Bad Cannstatt/Waiblingen bis Ende Juli zeitweise die Verbindungen unterbrochen. Mit gravierenden Auswirkungen auf die Remsbahn und die Murrbahn sowie auf den Bahnverkehr von und nach Tübingen und Ulm. Ein Bahnsprecher sagte: „Wir haben bis zuletzt mit Hochdruck alles versucht, um diese erheblichen Sperrungen vermeiden zu können.“ Man wisse, dass man Reisenden und Verkehrsunternehmen einiges abverlange.
Gestrandete Pendler – was wird aus den Bahnreisenden?
Wie genau die Sperrungen aufgefangen werden sollen, ist unklar. Ein Bahn-Sprecher sagte, man arbeite intensiv an Kompensationen und Ersatzangeboten für die Kundinnen und Kunden sowie an einem tragfähigen Fahrplankonzept und werde darüber schnellstmöglich informieren. „Gleichzeitig bitten wir alle Betroffenen für die Beeinträchtigungen um Entschuldigung.“ Verkehrsminister Hermann erläuterte, auf den betroffenen Strecken seien täglich so viele Pendler unterwegs, dass es gar nicht möglich sei, für sie alle einen Schienenersatzverkehr zu organisieren. „Es gibt gar nicht so viele Busse und Busfahrer.“
Der Vorsitzende des Fahrgastbeirats Baden-Württemberg, Matthias Lieb, sagte: „Es ist leider davon auszugehen, dass aufgrund der Kürze der Zeit kein ordentlicher Ersatzverkehr organisiert werden kann, sodass Fahrgäste unterwegs stranden werden.“ Der Fahrgastverband Pro Bahn mahnte ebenfalls rasche Informationen über das Alternativangebot an.
Wieso wurde das Ganze so kurzfristig bekannt?
Auch das Land sei von der Ankündigung überrascht worden, bei der Kommunikation sei noch „Luft nach oben“, bemängelte Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne). „Ich denke, das hätte die Bahn nun wirklich besser machen können.“ Hermann ergänzte, dass selbst die Bahn-Führung von den Informationen aus dem Projekt heraus überrascht worden sei.
FDP-Landeschef Theurer, der auch Beauftragter der Bundesregierung für den Schienenverkehr ist, sagte der dpa: „Aus gutem Grund sieht das europäische Gemeinschaftsrecht mehrmonatige Ankündigungs- und Konsultationsfristen bei baubedingten Kapazitätseinschränkungen vor.“
Wie geht es nun weiter?
Hermann betonte, das Land hätte die kurzfristigen Sperrungen stoppen können – aber damit in Kauf genommen, dass sich das ganze Projekt um lange Zeit verschiebt. Man habe dann gesagt: „Wir nehmen das Übel an.“ Aber die Verantwortung liege klar bei der Bahn. „Sie muss es bezahlen, auch die Folgekosten bezahlen.“ Das Unternehmen habe auch schon angekündigt, die Kunden zu entschädigen. Unterdessen greifen sogar die Grünen zu ungeahnten Ideen: Sie wollen die Straßen freimachen – so gut es geht. Hermann bat die Straßenbauverwaltung, die Baustellenpläne offenzulegen, damit wenigstens die Straßen auf den Strecken nicht zu beengt sind.
Theurer nannte es besorgniserregend, dass die Herausforderungen größer seien als gedacht. Er kündigte an: „Das Projekt steht zukünftig unter verschärfter Beobachtung.“ Personelle Konsequenzen seien in dieser Situation nicht zielführen. Es scheine eher um strukturelle Fragen als um personelles Fehlverhalten zu gehen.