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Schlechte Luft, wenig Platz

Wie man viereinhalb Stunden „Parsifal“ bei den Bayreuther Festspielen überlebt

Musikredakteurin Isabel Steppeler hat lange geübt, um in Wagners ungelüfteter Kunstscheune gesund und munter zu bleiben. Wie man das schafft – und warum sich der Besuch trotzdem lohnt.

Jay Scheib, Regisseur der Neuproduktion des „Parsifal“, sitzt mit einer Augmented Reality (AR) Brille im Zuschauerraum des Festspielhauses.
Jay Scheib, Regisseur der Neuproduktion des „Parsifal“, sitzt mit einer Augmented Reality (AR) Brille im Zuschauerraum des Festspielhauses. Dass an diesem Tag niemand neben ihm sitzt, ist Glück für seine Knie. Foto: Daniel Vogl/dpa

Ein Tag, an dem man früher Feierabend machen kann, ist perfekt für die Vorbereitung auf den Besuch bei den Bayreuther Richard-Wagner-Festspielen.

Nach Befolgen dieser Anleitung kann man sicher gehen, viereinhalb Stunden „Parsifal“ und auch einen immerhin zwei Stunden dauernden ersten Aufzug der „Götterdämmerung“ ohne selbst verschuldete Panne zu genießen, obwohl die Platzsituation und die Luftverhältnisse dagegen arbeiten. Zehn zeitlose Tipps und eine neue Herausforderung:

  1. Schon morgens vor dem Weg zur Arbeit schließen Sie in einem Zimmer mit Fernseher die Fenster und drehen die Heizung auf. Ziel ist eine Zimmertemperatur von 40 Grad.
  2. Platzieren Sie einen ungepolsterten Hocker so mit Blick zur Wand, dass der Abstand zwischen Ihren Knien und der Wand nicht mehr als fünf Zentimeter beträgt. Sicherheitshalber testen Sie, ob Sie die Beine ohne Weiteres überschlagen können. Geht es nicht, steht der Hocker goldrichtig.
  3. Stellen Sie dort auch schon ein Tablett bereit, mit einer klein gehackten Zwiebel, einem mit schwerem Parfüm getränkten Waschlappen und einem Glas Trollinger.
  4. Im Laufe des Arbeitstages trinken Sie zwei Liter Wasser und noch einmal einen Liter vor Beginn des fiktiven Opernbesuchs im vorgeheizten Raum.
  5. Als Frau tragen Sie High Heels, mit denen Sie sich seit Tagen Blasen gelaufen haben. Als Mann tragen Sie einen Anzug mit zu eng gebundener Krawatte.
  6. Punkt 16 Uhr starten Sie die CD mit einer Aufnahme von Wagners „Götterdämmerung“. Parallel starten Sie den Film „Django Unchained“ von Quentin Tarantino – ohne Ton – und versuchen kontinuierlich einen Zusammenhang zwischen Wagners Musik und Tarantinos Szene herzustellen.
  7. Alle fünf Minuten, also insgesamt 23-mal, schnuppern Sie wechselweise an der Zwiebel, dem Waschlappen und dem Weinglas, oder an allem gleichzeitig. Die ganze Palette an Ausdünstungen beider Sitznachbarn wie auch des Vordermannes respektive der Vorderfrau – der „worst case“ also – wären hiermit abgedeckt. Sie können alternativ auch wie in guten alten Zeiten der Pandemie eine FFP2-Maske tragen. Man bekommt dann zwar noch weniger Luft, die aber ist gut gefiltert.
  8. Stören Sie sich nicht daran, dass Sie den Kopf zum Bildschirm drehen müssen. Das kommt der möglicherweise eintretenden Situation gleich, vor sich einen Sitzriesen zu haben. Wichtig ist, dass Sie in keiner Minute die Konzentration geschweige denn die Nerven verlieren und selbstverständlich auch nicht aufstehen.
  9. Die Toilette haben Sie zuletzt um 14 Uhr besucht. Schon nach fünf Minuten werden Sie deshalb mit Harndrang kämpfen müssen. Verschnaufen!
  10. Zudem sollten Sie sich unbedingt auf unerwartete Störfaktoren einstellen. Hinter Ihnen sitzt vielleicht ein Gast, dem regelmäßig geräuschvoll Flüssigkeit aus dem Magen bis zur Hälfte der Speiseröhre hochkommt. Sie werden sich instinktiv nach vorn beugen und mit dem Kopf des Vordermannes kollidieren, der sich nach Minuten der Entlastung seiner Wirbelsäule in diesem Augenblick wieder zurücklehnt. Vor den Kopf gestoßen sollte man sich dennoch nicht fühlen. Das wollen ja bekanntlich nur Regisseure.

Gut gewappnet für die Bayreuther Festspiele mit Zwiebel und Waschlappen

Haben Sie nach einer Stunde und 55 Minuten noch Lust auf Wagner, sitzen Sie zwei Stunden im Festspielhaus mit der linken Pobacke ab, ohne mit der Wimper zu zucken.

Am realen Ort dann, im knapp 150 Jahre alten und nur sanft sanierten Festspielhaus, erwarten Sie als positive Überraschung ein dünnes Polster auf dem Klappstuhl und eine 30 Zentimeter hohe Rückenlehne, deren oberer Rand den Frauen genau auf die BH-Schnalle drückt. Die „Frischluft“, die aus den Kellergängen hinter dem Orchestergraben vor Aufführungsbeginn in den Saal geleitet worden ist, ist schon verbraucht, bis die Gäste Platz genommen haben.

Warum dann überhaupt Bayreuth? Ganz einfach: Hebt Richard Wagners Musik aus dem die Klänge so einzigartig mischenden Orchestergraben an, dem mystischen Abgrund, man würde sich für diese Akustik sogar auf einen Melkschemel setzen. Im Ernst!

Neu auf dem Hügel: AR-Brille

Ganz neu auf dem Grünen Hügel: der richtige Nasenbügel. Bei den Festspielen 2023 wird der Besucher-Service größer geschrieben als die Tafel beim Optiker. Ja, wer nicht nur eine Karte bekommen hat für die Neuinszenierung von Richard Wagners „Parsifal“, sondern auch rechtzeitig die Dioptrien-Zahl durchgegeben hat, darf sich auf eine neue Erfahrung freuen. Und auf eine persönlich eingerichtete AR-Brille.

Zur Inszenierung von Jay Scheib, mit der an diesem Dienstag (25. Juli) die Richard-Wagner-Festspiele in Bayreuth eröffnen, gibt es für 330 Besucherinnen oder Besucher mehr als 400 optische Effekte einer Augmented Reality. Wer schon vormittags vor Eröffnung der Festspiele im Pressecenter seine Brille testet, kann sich noch den Bügel einrichten lassen.

Wie sich der Bügel auf der Nase macht? Ob man damit den heiligen Gral besser sieht oder ob einem gar übel wird? Wohin mit dem Kabel zwischen Klappstühlen? Das erfahren Sie im Laufe dieser Premieren-Woche. Erbrochen, äh, versprochen!

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