
Zwei, die sich etwas trauen. Marlene Jäger, 23, studiert Management in Lissabon. Cosima Kissel, 23, hat sich in der Pandemie mit einer Marketing-Agentur für soziale Medien in Neuss selbständig gemacht.
In einer Online-Konferenz mit zwei Dutzend Teilnehmern aus ganz Deutschland machen beide junge Frauen eigentlich einen ruhigen, souveränen und zufriedenen Eindruck – bis der Moderator sie nach ihrem Gemütszustand fragt.
„Der psychische Druck ist gerade sehr intensiv. Er belastet mich. Trotzdem versuche ich, meinen Weg zu gehen und mich nicht herunterziehen zu lassen“, sagt Kissel. Jäger berichtet von Selbstzweifeln, Depressionen, Angstzuständen und Geldnöten in ihrem Umfeld.
„Bei meinen Freunden und mir macht sich die Angst vor dem Alter breit. Was tun, damit wir später noch von unserer Rente leben können? Wie sollen wir jetzt unsere Mieten bezahlen? Wir reden offen darüber und überlegen gemeinsam, wie wir diese Sorgen in den Griff bekommen können.“
Der psychische Druck ist gerade sehr intensiv.Cosima Kissel, junge Marketing-Unternehmerin
Zwei Jugendforscher haben die beiden 23-Jährigen um einen Auftritt im Online-Event gebeten, damit die von ihnen vorgestellten Statistiken für die Zuhörer nicht so abstrakt und trocken klingen.
Klaus Hurrelmann und Simon Schnetzer machen seit dem Beginn der Corona-Pandemie alle sechs Monate eine Bestandsaufnahme, wie es um die Jugend in Deutschland steht. Dazu werden repräsentativ und sozial ausgewogen mehr als 1.000 Bundesbürger im Alter von 14 bis 29 Jahren nach ihren Stimmungen, Erwartungen und Einstellungen befragt.
Die aktuelle Auswertung der Interviews im Oktober zeichnet ein beunruhigendes Bild einer jungen Generation, deren Zuversicht in die Zukunft angesichts der großen psychischen und finanziellen Belastungen zu schwinden scheint.
Die Inflation ist die größte Sorge
Die steigenden Preise sind demnach zurzeit die größte Sorge von jungen Menschen in Deutschland (71 Prozent), gefolgt von der Angst vor dem Krieg in Europa (64 Prozent), dem Klimawandel (55 Prozent), der Wirtschaftskrise (54 Prozent), Energieknappheit (49 Prozent) und Altersarmut (43 Prozent).
Laut der Studie zwingt die Inflation jeden dritten Jugendlichen zu sparen. 34 Prozent sagen, dass sie auf vieles verzichten müssen. Jeder fünfte junge Mensch in Deutschland hat der Umfrage zufolge Schulden.
Jeder achte gibt an, von Armut bedroht zu sein. Elf Prozent gehen nach eigenen Angaben zu Tafelläden, um über die Runden zu kommen, oder suchen in Containern vor Lebensmittelgeschäften nach weggeworfenen Lebensmitteln.
„Erstmals beobachten wir bei den Jugendlichen die Überzeugung, dass sie sich den Wohlstand ihrer Eltern nicht leisten werden können“, sagte am Montag bei der Vorstellung der Studie der Kemptener Forscher Schnetzer.
Hinzu kommen die Sorgen über den Ukraine-Krieg. 38 Prozent der jungen Menschen haben große oder sehr große Angst, dass er sich auf ganz Europa ausweiten könnte.
Die meisten fürchten heute eher seine finanziellen Auswirkungen oder rechnen mit noch mehr Flüchtlingen. Insgesamt 21 Prozent haben Angst vor „Atomwolken über Deutschland“ oder befürchten, selbst fliehen zu müssen. Beide Werte sind allerdings seit der Befragung im Sommer etwas gesunken.
Wir haben ein ernstes Problem, das es so noch nie gegeben hat.Klaus Hurrelmann, Jugendforscher aus Berlin
Der Bildungs- und Jugendforscher Hurrelmann von der Hertie School in Berlin sieht die Jugend im „Dauerkrisenmodus“. Zwar hätte sie eine gewisse Routine im Umgang mit Ausnahmesituationen entwickelt, weswegen auch die eigene Situation seit Mai insgesamt unverändert eingeschätzt wird.
„Dennoch steigt die Unsicherheit über die Zukunft“, sagte der Experte. „Es ist ungewöhnlich, dass sich über die seit Jahren stabilen Klima-Ängste jetzt noch der Krieg und die Inflation geschoben haben. Wir haben damit ein ernstes Problem, das es so noch nie gegeben hat.“
Im Mai 2022 gab fast die Hälfte der Befragten an, dass sie wegen der Corona-Einschränkungen psychische Probleme hätten. Über 40 Prozent klagten darüber, das eigene Leben nicht mehr kontrollieren zu können.
Hurrelmann berichtet jetzt von einer teilweise „bedrohlich verfestigten Form“ der seelischen Belastung, die bei einer „erschreckend großen Minderheit“ der jungen Menschen bis an ihre Persönlichkeitsstruktur gehen würde.
Unzufrieden mit der psychischen Gesundheit
In der Umfrage gab jeder Vierte der 14- bis 29-Jährigen an, mit seiner oder ihrer psychischen Gesundheit unzufrieden zu sein. Frauen sind demnach deutlich mehr betroffen als Männer.
Bei beiden Geschlechtern empfinden 16 Prozent Hilflosigkeit. Zehn Prozent berichten sogar von Suizidgedanken. Diese Werte sind seit der letzten Trendstudie vom Mai 2022 angestiegen.
„Bei vielen jungen Menschen sind die Kräfte der psychischen Abwehr verbraucht, und die Risikofaktoren mehren sich. Wir werten das als ein dringendes Warnsignal“, schreiben ihre Autoren.
Nach Einschätzung von Schnetzer und Hurrelmann brauchen etwa zehn Prozent der befragten Jugendlichen therapeutische Unterstützung, die Hälfte davon halten sie für unmittelbar behandlungsbedürftig. „Wir brauchen mehr Unterstützung und Therapieplätze, die nicht erst in sechs Monaten, sondern kurzfristig verfügbar sein müssen“, forderte in der Online-Konferenz die Marketing-Unternehmerin Cosima Kissel.