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„Welttag des Sehens“

Nicht mehr blind: Wie eine einfache OP das Leben eines Massai-Mädchens verändert hat

Blind und vom eigenen Stamm verstoßen: Das bisherige Leben der zehnjährigen Naanyu war von Dunkelheit und Zurückweisung geprägt. Vor wenigen Tagen hat eine lang ersehnte Operation ihr Leben verändert. Für 125 Euro.

Mit anderen Augen: Naanyu Siatoi (10) aus Tansania war Jahre lang blind. Das Bild zeigt das Mädchen kurz nach ihrer ersehnten Grauer-Star-Operation im Kilimanjaro-Universitätskrankenhaus im Norden von Tansania.
Naanyu Siatoi (10) aus Tansania war Jahre lang blind. Das Bild zeigt das Mädchen vergangene Woche nach ihrer ersehnten Grauer-Star-Operation im Kilimanjaro-Universitätskrankenhaus KCMC. Foto: Daniel Streib

Am Vorabend ihres großen Tages sitzt Naanyu kerzengerade auf ihrem Laken und lauscht in das Stimmengewirr im Saal. Manchmal übersetzt sie etwas für ihre Mutter, mit der sich die kleine Patientin ein Bett teilt im Kilimandscharo Christian Medical Centre.

Die Universitätsklinik im Norden von Tansania ist nach dem höchsten Berg Afrikas benannt. Man könnte den Giganten von der Klinik aus sehen, wenn er nicht wieder einmal von trüben Wolken verhangen wäre – trüb wie die Augen der blinden Naanyu.

Das zehnjährige Mädchen versteht ganz gut Swahili, die Gebrauchssprache Ostafrikas. Ihre Mutter Nagutoti kennt nur ihren Massai-Dialekt wie er Zuhause gesprochen wird, am Ngorongoro-Krater. Jenes Naturwunder, das mit 26.400 Hektar größer ist als die Stadt Frankfurt am Main und so artenreich, dass schon Bernhard Grzimek ganz verzaubert war. Deutschlands bekanntester Tierforscher liegt dort begraben.

Den Zauber ihrer artenreichen Heimat hat Naanyu nie gesehen

Den Zauber ihrer Heimat hat Naanyu noch nie richtig gesehen. Schon früh habe das jüngste von vier Kindern schlechte Augen gehabt, gab ihre Mutter Nagutoti Siatoi zu Protokoll, als Helfer der Christoffel-Blindenmission (CBM) das Mädchen entdeckten. Da war Naanyu wohl schon mehr als ein Jahr vollständig blind. Zwei auffällige Stellen wie kleine Vollmonde in ihren Augen verraten die Diagnose: Grauer Star, die weltweit häufigste Ursache für Erblindungen.

Fragt man Naanyu nach ihren Träumen, dann sagt sie: Zur Schule gehen und Schreiben lernen. Die bisherigen Kenntnisse des Mädchens haben mit den sozialen Folgen ihrer Erkrankung zu tun. „Das Swahili hat sie auf der Straße gelernt“, sagt Henry, der Übersetzer. Schulbildung bleibt Blinden in Tansania fast immer verwehrt, Inklusionsschulen gibt es so gut wie nicht.

Dem Übersetzer zufolge wurde das erblindete Kind von seinem Stamm zuletzt offenbar nicht mehr im Inneren von Ngorongoro geduldet. Naanyu, die Halbwaise ist, lebte zuletzt bei einer Tante in einem Dorf am Rande des Reservats, wo nicht nur Massai gesprochen wird.

Die Regierung von Tansania bemüht sich dort, die Massai von ihrer halbnomadischen Lebensweise abzubringen. Das ist schwer bei einem stolzen Hirtenvölkchen, das glaubt, der Schöpfergott Ngai habe alle Rinder der Welt den Massai geschenkt. Ein Glaube, der häufig für kriegerische Auseinandersetzungen sorgte.

Das Gesicht der Mutter lässt das archaische Massai-Leben erahnen

Das harte Gesicht der 40-jährigen Mutter lässt auch im Krankenhauslicht das archaische Leben der Massai erahnen. Ihren Ohrschmuck hat sie abgelegt, was ihre stark geweiteten Ohrlöcher zu erkennen gibt. Der Blick der Frau ist ernst und undurchdringlich, doch wenn sie mit der Tochter spricht, dann lächelt sie.

Naanyu Siatoi (10) wartet im Kilimanjaro-Krankenhaus in Tansania auf ihre Operation. Das blinde Mädchen vom Stamm der Massai wird von ihrer Mutter begleitet.
Naanyu Siatoi (10) am Tag vor ihrer ersehnten Augenoperation. Das blinde Mädchen wird von ihrer Mutter begleitet. Foto: Daniel Streib

Am nächsten Morgen wird das Kind in steriler Kleidung in den Operationsbereich geführt. Die Mutter steht im Wartesaal, die traditionellen Tücher fest am hageren Leib verknotet, den Blick fixiert auf die OP-Tür. Der Eingriff dauert ungewöhnlich lang.

Das liegt daran, dass die eingetrübte Linse in einem Auge sehr fest saß und nur in kleinen Schritten entfernt werden konnte, so wird Dr. Mchikirwa Msina später erklären. Sie ist eine der wenigen Ärztinnen im weiten Umkreis, die Grauen Star operieren können.

Die spezielle Ausbildung hat die 42-Jährige auch mit der Unterstützung von CBM machen können. Die in Bensheim an der Hessischen Bergstraße ansässige „Blindenmission“ ist unter den internationalen Hilfsorganisationen als Augenspezialistin anerkannt.

Mit Spendengeldern werden jährlich Tausende Operationen von Menschen weltweit unterstützt, für die die Operationskosten von 30 Euro sonst unerschwinglich wären. Pressesprecherin Miriam Brakel erklärt: „Bei Kindern liegen die Kosten derzeit bei rund 125 Euro, was an der Vollnarkose liegt.“

Der Austausch der undurchsichtig gewordenen Augenlinse durch eine Kunstlinse wird bei Erwachsenen in der Regel nur mit lokaler Betäubung durchgeführt. In Indien, so heißt es, gibt es Ärzte, die 100 dieser Operationen an einem Tag durchführen können, zehn Minuten pro Patient.

Die Operation dauert viel länger als normal

Bei Naanyu dauert es fast zwei Stunden. Mit dicken Verbänden auf den Augen wird die kleine Patientin in die Krankenstation entlassen. Und in die Ungewissheit.

Wie erfolgreich die OP war, wird sich erst am nächsten Tag erahnen lassen, bei den ersten Untersuchungen und Sehtests. Augenärztin Msina hatte vor der Operation die Hoffnungen gedämpft. Seien Kinder schon länger blind, komme es nicht nur auf eine klare Linse an. „Das Gehirn muss die optischen Informationen auch verarbeiten können.“

Nach der Operation werden erste Sehtests durchgeführt. Nuunyas Mutter schaut interessiert zu.
Nach der Operation werden erste Sehtests durchgeführt. Nuunyas Mutter schaut interessiert zu. Foto: Daniel Streib

Naanyus dritter Tag im Kilimanjaro Christian Medical Centre ist der Tag der Wahrheit. In einem kleinen Behandlungszimmer nimmt ein Assistenzarzt die Verbände ab, streicht mit einem Wattebausch über die sich öffnenden Kinderaugen. Und Naanyus lächelt.

Die ersten Tests sind ermutigend. Das Kind erkennt, wie viele Finger ihr der Assistenzarzt zeigt. Allerdings nur, wenn er nicht zu weit weg ist. Augenspezialistin Dr. Msina ist nach einer ausgiebigen Untersuchung zuversichtlich. Das Sehvermögen des Mädchens, das gestern noch blind war, liegt bei etwa 25 Prozent. „Das kann durch Nachsorge und Sehhilfen weiter verbessert werden“, betont Msina.

Die Bedeutung der Nachsorge schärft die Ärztin einem baumlangen Kerl in westlicher Second-Hand-Kleidung ein. Der Massai in Zivil spricht gut Swahili. Er ist gekommen, um Mutter und Tochter wieder nach Hause zu holen.

Als sie in das gleißende Mittagslicht vor der Klinik treten, kann man den Kilimandscharo sehen.

Die Recherche wurde unterstützt von CBM.

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