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Wer glaubt denn so was?

Das Virus des Misstrauens: Warum die Corona-Pandemie Verschwörungstheorien befeuert

Die Corona-Pandemie befeuert Verschwörungstheorien, die zu teilweise sehr aggressiven Debatten über die möglichen Wege aus der Krise führen. Solche Mythen belasten manchmal auch Familien und Freundschaften.

Realitätsflucht in der Krise? Manche Menschen, die gegen die Corona-Politik auf der Straße demonstrieren (Symbolbild), sind überzeugt, dass es eine Verschwörung der Politik und Pharmaindustrie gegen die Bevölkerung gibt, um sie auszurotten. Darum lehnen sie die Impfungen ab.
Realitätsflucht in der Krise? Manche Menschen, die gegen die Corona-Politik auf der Straße demonstrieren (Symbolbild), sind überzeugt, dass es eine Verschwörung der Politik und Pharmaindustrie gegen die Bevölkerung gibt, um sie auszurotten. Darum lehnen sie die Impfungen ab. Foto: Daniel Reinhardt picture alliance/dpa

An Weihnachten, dem Fest der Liebe, hat Anna Müller den Kontakt zu ihrer Mutter abgebrochen. Vielleicht für immer. Der Tropfen, der das Fass überlaufen ließ, war Bettina Müllers Weigerung, ihren alten, dementen Vater zu pflegen, nachdem er sich gegen Corona hatte impfen lassen. „Sie sagte, dass er mRNA-Partikel ,ausstrahlen’ würde und sie sich nicht daran anstecken wolle“, erzählt Anna. „Meine Mutter hat Opa hängen lassen. Ich fand das grausam.“

Die BNN schildern diese wahre Familiengeschichte aus der Region unter falschen Namen, weil sie den Beteiligten Scham und Schmerz bereitet und und niemand weitere Wunden aufreißen will. Bettina Müller, 57, aufgewachsen in der früheren DDR, ist laut ihrer Tochter schon immer angeeckt und ist über das Leben im Westen frustriert gewesen.

Durch einen Lebenspartner, der einen „alternativen“ Lebensstil pflegt und die Medizin ablehnt, sei ihre Mutter in die zwielichtige Welt der Verschwörungstheorien abgedriftet, bedauert die 27-jährige Erzieherin.

Ich habe mit meiner Mutter diskutiert, doch ich komme gegen diese Wand nicht durch.
Anna Müller, Betroffene aus der Region

„Sie schottet sich gegen ,elektrische Strahlung’ ab. Sie wirft meinem Bruder vor, der Chemie studiert, dass er unter Kontrolle des Staates stehe. Und nun geht sie gemeinsam mit den Querdenkern auf die Straße, um für die Freiheit der Kinder zu demonstrieren“, erzählt Anna Müller. Sie ist fassungslos darüber, dass ihre Mutter nicht einmal mehr ihren eigenen Enkeln zum Geburtstag gratulieren will. „Ich habe mit ihr diskutiert, doch ich komme gegen diese Wand nicht durch“, sagt sie. „Mein Mann hat wegen Corona seinen Job verloren. Es ist hart für uns. Ich will deshalb Menschen mit derart extremen Ansichten nicht um mich herum haben.“

Eine ähnliche Erfahrung hat Leo Weber gemacht (Name geändert). Der 32-jährige Unternehmer hat einen Freund aus seinem Leben gestrichen, weil dieser die „tödliche“ Corona-Impfung ablehnt, die Infektionszahlen für frei erfunden hält und hinter den Pandemiemaßnahmen eine Verschwörung gegen das Volk sieht. „Wir haben oft darüber geredet, dann war mein guter Wille aufgebraucht“, erzählt Weber. „Ich sagte ihm: ,Du stellst dich mit deinen Überzeugungen außerhalb der gesellschaftlichen Mehrheit. Ich möchte mit dir nichts mehr zu tun haben’.“ Es sei nicht einfach gewesen, erinnert er sich. „Aber ich habe mich nach dem Bruch erleichtert gefühlt.“

Ich habe mich nach dem Bruch erleichtert gefühlt.
Leo Weber, Betroffener aus der Region

Es gibt viele solcher Geschichten. Sie unterscheiden sich in Details und ähneln sich im Kern. Es geht um das Scheitern der engen persönlichen Beziehungen oder den Bruch stabiler Familienbande durch wachsendes Unverständnis, Misstrauen und am Ende unüberwindbare Entfremdung, weil sich Menschen von realitätsfernen Vorstellungen, Lügen und Falschinformationen vereinnahmen lassen und ihr Handeln danach ausrichten.

In der Pandemie haben sich solche Entwicklungen zugespitzt. Was bedeutet das für uns als Gesellschaft? Und lassen sich die dem Verschwörungsglauben verfallenen Menschen nicht doch irgendwie in die Normalität zurückholen?

Der Glaube an den großen Komplott

Den meisten Verschwörungstheorien - so die Sicht der Forschung - liegt die Annahme zugrunde, dass mächtige Personen oder Gruppen heimlich unser Leben lenken würden. Dabei müssen Mythen als Erklärungen für komplexe Vorgänge herhalten. Die Verschwörungsfans akzeptieren keine etablierten Fakten und glauben nicht an Zufälle: In Ihren Augen folgen die Entwicklungen einem verborgenen Plan. Nichts ist, wie es scheint, und alles ist miteinander verbunden, und zwar in einem großen Komplott.

Derlei Theorien sind schon lange bekannt. „Vom Mittelalter an war es normal, an Verschwörungen zu glauben“, sagt zum Beispiel der Politikwissenschaftler und Landesbeauftragte gegen Antisemitismus, Michael Blume. „Ab den 1950er-Jahren haben sie aber an Popularität verloren und wanderten in den Untergrund. Es war wie mit dem Aberglauben und der Magie: Manche Menschen glaubten daran, aber sie trauten sich nicht, außerhalb des Kreises von Gleichgesinnten darüber zu sprechen.“

Vom Mittelalter an war es normal, an Verschwörungen zu glauben.
Michael Blume, Politikwissenschaftler

Laut Blume haben Verschwörungstheorien in der Pandemie eher nicht zugenommen. Sie seien nur deshalb so präsent, weil das Virus eine konkrete Bedrohung darstelle und sich jeder zu Corona positionieren müsse.

Ähnlich sieht das auch die Berliner Sozialpsychologin Pia Lamberty. Sie erklärt die aktuelle Popularität der Verschwörungsmythen damit, dass Krisen die Gesellschaften immer ins Wanken bringen und die Schwachstellen aufzeigen würden, wie jetzt. Kann das zur Gefahr für die Demokratie werden? Beide Fachleute beantworten diese Frage mit „nein, aber“.

„Die Protestmenge auf der Straße ist überschaubar, ich mache mir deswegen keine Sorgen. Unser System wird das aushalten, aber wir werden auch Gewalttaten erleben“, sagt Blume. „Die Demokratie braucht aktive Auseinandersetzungen, es müssen immer wieder Grenzen ausgelotet und diskutiert werden. Die Verschwörungstheorien sind eine Herausforderung, aber die Gesellschaft kann ihr etwas entgegensetzen“, urteilt Lamberty. „Wenn eine große Anzahl von Menschen daran glaubt, erschwert dies allerdings das demokratische Miteinander“, ergänzt sie. „Zudem gehen solche Überzeugungen stärker mit einer Gewaltaffinität einher.“

Die Demokratie braucht aktive Auseinandersetzungen.
Pia Lamberty, Sozialpsychologin

Warum viele Menschen in Krisen an Verschwörungen glauben, ist ebenfalls gut erforscht. Oft geht es um das Gefühl, die Kontrolle über das Leben verloren zu haben. Durch eine starke Vereinfachung des Geschehens und die Benennung von Sündenböcken soll die Kontrolle wieder zurückgewonnen werden.

Manche Menschen wollen sich selbst entlasten, indem sie die Verantwortung auf andere (die Verschwörer) abwälzen. Anderen geht es um einen Auftrieb für ihr Ego: Sie möchten den eigenen Wert erhöhen, indem sie sich zu einer Gruppe dazu zählen, die angeblich den Geheimplan der Mächtigen durchschaut.

Beratungsstelle von Anfragen überflutet

Sarah Pohl hört sich fast täglich solche Geschichten an. Die Zentrale Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen Baden-Württemberg - abgekürzt „Zebra“ - wurde 2020 vom Land eröffnet, um Betroffenen im Bereich Sekten und Esoterik zu helfen. Sie seien dann durch die Flut der Anfragen zu Verschwörungstheorien überrascht worden, berichtet die Freiburger Pädagogin: Von 608 Erstanfragen im vergangenen Jahr hätten sich 330 mit diesen Mythen beschäftigt.

„Meistens rufen uns nicht die direkt Betroffenen an, sondern ihre Angehörigen, Freunde und Kollegen. Wir hören dann: ,Jemand glaubt etwas ganz Schräges und will mich überzeugen, wie soll ich damit umgehen?’“, erzählt Pohl. Sie findet es interessant, dass sich eher selten besorgte Eltern meldeten, deren Kinder zu fanatischen Mythengläubigen wurden - es sei vielmehr andersherum: „Oft erzählen uns junge Menschen, dass ihre Eltern da drin stecken. Aus den Studien wissen wir, dass die Medienkompetenz in der Gruppe Ü60 nicht sehr ausgeprägt ist, die sind da wohl etwas durchs Netz gefallen.“

Oft erzählen uns junge Menschen, dass ihre Eltern da drin stecken.
Sarah Pohl, Pädagogin und Beraterin

Der Erfolg ihrer Beratung hänge wesentlich von der Intensität des Verschwörungswahns ab, erzählt Pohl. „Wenn sich ein Mensch für eine Theorie gerade begeistert hat, ist es am schwierigsten, ihn zu erreichen. Das ist, wie wenn du dich frisch verliebst und jemand sagt, dass dein Partner nicht toll ist. Solche Menschen schotten sich eher ab.“

Es sei deswegen besser, zurückhaltend zu sein und mit derlei Gläubigen später zu sprechen, wenn sie nicht „alles in rosarot“ sehen würden, sagt die Beraterin. Es komme außerdem darauf an, sie auf der emotionalen Ebene abzuholen.

Suche nach dem verborgenen Teil des Eisbergs

Pohl vergleicht die Psyche mit einem Eisberg: Oben die Spitze (Faktenebene) und unter Wasser ein riesiger, verborgener Teil - die Emotionen und Ängste. „Wenn wir mit diesen Menschen sprechen, ist es wichtig, diesen Teil zu finden und zu verstehen, warum er oder sie an diese Dinge glaubt, anstatt ihn zu verurteilen. Wir stellen fest, dass Menschen, die sich verstanden fühlen, weniger laut und besser erreichbar sind, als wenn man Ihnen mit Faktenstudien entgegen treten würde.“

Lesetipp

„Alles Spinner oder was? Wie Sie mit Verschwörungsgläubigen gelassener umgehen“, Sarah Pohl und Isabella Dichtel, Vandenhoek & Ruprecht Verlag, 2021

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