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Eskalation der Russland-Krise

Politikexperte: „Wir sind in einem Konflikt mit Russland, das in uns einen Gegner sieht“

Der Berliner Politikexperte und Russland-Kenner Stefan Meister (DGAP) spricht im Interview über Putins Expansionslogik, die Fehler des Westens, den Abschied von deutschen Brückenbauer-Illusionen und die Notwendigkeit der stärkeren Abschreckung in einem unsicherer gewordenen Europa.

Servicemen of Ukrainian Military Forces walk along tranches on their position on the front line with Russia backed separatists.
Soldaten der Ukraine sind derzeit im Kampf gegen Separatisten gefordert. Ob es zu einem militärischen Eingriff des Westens im Konfliktgebiet kommt, ist noch unklar. Foto: Anatolii Stepanov/AFP

Deutschland müsse im Verhältnis mit Russland seine „Komfortzone“ verlassen, die strategische Abhängigkeit von Moskau verringern und über Defensivwaffen-Lieferungen an Verbündete diskutieren, fordert der Berliner Politikwissenschaftler Stefan Meister von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).

Im Interview mit unserem Redaktionsmitglied Alexei Makartsev erklärt Meister, warum die aggressive Expansionspolitik Wladimir Putins keine Tabus mehr kennt und wie sich der Westen in der neuen Situation verhalten sollte.

Neue Sanktionen wenig wirksam, aber unvermeidlich: Der Politikexperte Stefan Meister glaubt, dass die russische Führung bereitwillig einen hohen Preis bezahlen wird, um die Ukraine unter ihre Kontrolle zu bringen.
Der Politikexperte Stefan Meister glaubt, dass die russische Führung bereitwillig einen hohen Preis bezahlen wird, um die Ukraine unter ihre Kontrolle zu bringen. Foto: Stefan Meister / DGAP

Russland erkennt die Separatistengebiete als unabhängige Staaten an und etabliert dort eine Militärpräsenz. Welche Logik steckt hinter dieser Entscheidung?
Meister

Wir sind in einer neuen Stufe eines Spiels, das weiter eskaliert. Die Föderalisierung der Ukraine ist nicht mehr Putins Ziel. Es geht ihm darum, das Land unter Kontrolle zu bringen, das in seinen Augen keine Souveränität besitzt. Das Minsker Abkommen hat aus russischer Perspektive keinen Wert gehabt. Deswegen greift sich Russland jetzt Teile der Ukraine, um das Land stärker unter Druck zu setzen, und in einer Salamitaktik vielleicht noch weitere Gebiete an sich zu reißen.

Wie vorstellbar ist es, dass Russlands Militär nicht an den von den Rebellen kontrollierten Grenzen der Separatistengebiete stehenbleibt und auf ukrainisches Staatsgebiet vorrückt?
Meister

Es gibt keine Tabus mehr, wie Putins Rede zeigt. Die Frage ist, welches Territorium er im Blick hat. Möglicherweise ist das mehr als nur die beiden „Volksrepubliken“. Dass Russland die ganze Ukraine einnehmen und Kiew erobern könnte, ist aber zurzeit ein unwahrscheinliches Szenario. Denn die militärischen und sicherheitspolitischen Kosten wären wahnsinnig hoch.

War der Einmarsch im Donbass langfristig geplant oder ist das eher eine spontane Reaktion des Kreml auf die erfolglosen Versuche, dem Westen Zugeständnisse zu entlocken?
Meister

Ich denke nicht, dass dieser Schritt lange geplant war. Der Kremlchef ist Teil eines Systems, das sich Optionen schafft. Putin sieht sich als eine historische Figur, die eine historische Aufgabe in der Ukraine erfüllen muss. Wie er das schafft, hat er möglicherweise bislang nicht gewusst. Dass der Erpressungsversuch gegenüber dem Westen erfolglos war und die Ukraine als Staat funktioniert, hat ihn jedoch dazu bewogen, die Option mit den „Volksrepubliken“ zu ziehen.

Werden sie demnächst zu Teilen der Russischen Föderation werden?
Meister

Wir haben währen der Präsentation aus dem Sicherheitsrat in Moskau gesehen, dass dies bereits diskutiert wird. Dieses Szenario rutschte bei zwei Teilnehmern dieses Treffens heraus. Es ist also wohl ein Teil des Plans.

Der Minsker Friedensplan ist „tot“. Muss es jetzt einen neuen Friedensprozess unter Berücksichtigung der neuen Realitäten in der Ostukraine geben?
Meister

Die Frage ist, wie realistisch solche Projekte sind. Die Erwartungen, dass wir mit diplomatischen Bemühungen etwas erreichen können, waren zu hoch. Aber es geht gar nicht anders, als dies erneut zu versuchen. Wir haben schon länger gewusst, dass das Normandie-Format nicht funktioniert. Darum brauchen wir gemeinsam mit den USA neue Formate, die für Russland relevanter sind. Diplomatische Prozesse sind immer nützlich, man muss immer reden, um die Situationen etwas entschärfen zu können.

Deutschland ist kein Vermittler mehr. Sollte die Bundesregierung ihre Strategie ändern und Waffen an die Ukraine liefern?
Meister

Das Thema Waffen hat eher etwas mit der deutschen Innenpolitik zu tun. Die Mehrheit unserer Bevölkerung ist dagegen, und deswegen haben sich die politischen Entscheidungsträger so positioniert. Ich bin nicht sicher, ob wir jetzt Waffen liefern sollten. Wir brauchen aber eine Debatte darüber. Die Welt hat sich verändert. Die militärischen Instrumente sind wieder zentral geworden, und die Staaten sind bereit, sie einzusetzen. Wir müssen deshalb selber stärker abschrecken können und auch die Verbündeten mithilfe von Defensivwaffen dazu befähigen.

Die bisherigen Sanktionen gegen Russland waren offensichtlich nicht abschreckend genug – sind noch mehr Sanktionen die richtige Antwort Europas auf den erneuten Völkerrechtsbruch?
Meister

Die Sanktionen werden Putin nicht davon abhalten, bestimmte Dinge zu tun. Wir sehen, wie er den Staat darauf vorbereitet. Die Bereitschaft, die Kosten zu tragen, ist in der russischen Führung sehr groß. Wir haben relativ wenige Einflussmöglichkeiten und stärken mit neuen Sanktionen nur die Isolation Russlands. Dennoch: Ja, man braucht Sanktionen zur Abschreckung und um zu verdeutlichen, dass ein Staat nicht alles machen kann, ohne dass es Konsequenzen gibt.

Die neuen Entwicklungen erinnern an die Annexion der Krim, die uns 2014 kalt erwischt hat...
Meister

… und aus der wir leider nicht genug gelernt haben. Wir agieren weiter nach Putins Szenario und diskutieren Dinge, die er auf die Agenda setzt. Russlands Präsident bestimmt das Tempo und hat die Eskalationsdominanz. Wir können mit diesen Taktiken nicht gut umgehen, weil sie einer anderen Logik folgen als unsere. Wir nehmen zum Beispiel in den Entscheidungsprozessen Rücksicht auf die Öffentlichkeit, während sie in Russland keine Rolle spielt.

Deutschland hatte früher eine gute Beziehung mit Russland, darum agierten die Bundesregierungen auch so vorsichtig, um die Rolle des Brückenbauers in Krisen erfüllen zu können. Wird es Zeit, um diese freundliche Zurückhaltung aufzugeben?
Meister

Ja. Militärisch ist Deutschland nicht handlungsfähig, das ist aber die Kategorie, in der die russischen Eliten zunehmend denken. Die Bundesregierung wird also in Moskau nicht ernst genommen. Darum müssen wir uns von dieser Brückenfunktion verabschieden und in der Realität ankommen. Denn wir sind heute in einem Konflikt mit Russland, das in uns einen Gegner sieht. Der Glaube, dass man mit Zurückhaltung oder dem Kauf von Erdgas etwas bewirken könnte, ist naiv. Stattdessen brauchen wir eine komplett neue Russland-Strategie.

Was muss sie beinhalten?
Meister

Russland will die Sicherheitsordnung verändern. Putin ist bereit, dafür das Militär einzusetzen und einen hohen Preis zu bezahlen. In dieser komplett neuen Sicherheitssituation in Europa müssen wir unsere roten Linien definieren. So traurig das ist, wir müssen mehr in eine stärkere militärische Abschreckung investieren und Abhängigkeiten reduzieren, zum Beispiel von den Gaslieferungen. Wir sollten sicherstellen, dass unsere strategische Infrastruktur wie Gasspeicher nicht an Staaten verkauft wird, die uns als Gegner definieren. Es geht darum, den Idealismus zu überwinden und die Komfortzone zu verlassen, in der wir gelebt haben. Sonst machen wir uns nur lächerlich.

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