Er spielt den Blues und lebt den Rock ’n’ Roll. Er ist ein rollendes Urgestein, das Patina, aber niemals Moos ansetzte. Oft stand er mit einem Bein im Gefängnis und mit dem anderen im Grab.
Sein Gesicht gleicht einem brüchigen Wüstenboden, und selbst im fortgeschrittenen Seniorenalter präsentiert sich der Junge aus der englischen Provinz mit der Vorliebe für Mascara, Röhrenhosen und Piratenkopftüchern als rauer Rock-Rabauke. Keith Richards, die coole Socke, hat sein Image als Wüstling gepflegt, sich als Kampfköter inszeniert, während sein Kumpel Mick Jagger vor allem durch seine Begeisterung für Cricket und Festgeld-Konten Schlagzeilen machte.
Am Dienstag wird der womöglich letzte Überlebende des Rock ’n’ Roll 75 Jahre alt – Anlass für die BNN, dem Herz der Rolling Stones mit einem A bis Z zu gratulieren.
- A wie Anfänge: „Jeder, der aus Dartford stammt, ist ein Dieb. Das liegt uns im Blut“. Diese Einschätzung stammt von Good Ol’Keef, dem klampfenden Rentner, höchstpersönlich. Wen außer ihn, den Rock-’n’-Roll-Krieger, würde es ausgerechnet während eines Angriffs der deutschen Luftwaffe ans Licht der Welt drängen? Als Kind begeistert er sich für die Musik aus Walt Disneys „Zauberlehrling“, bekommt eine Gitarre und eine Platte von Little Richard in die Hände. 1961 begegnet er auf dem Bahnhof von Dartford Mick Jagger, und die größte Rockband aller Zeiten kommt ins Rollen.
- B wie Bourbon: Was hat er nicht alles in sich hineingeschüttet, der Mann, den die taz reichlich respektlos als „rockende Dörrpflaume“ titulierte. Einem Stöffchen ist der Jubilar aber stets treu geblieben – dem Rebell Yell aus Kentucky. Bei Interviews steht stets ein Fläschchen des Hochprozentigen auf dem Tisch, schließlich ist Keith eigenen Aussagen zufolge sein bester Saufkumpan. Allerdings gibt es Journalisten, die nach einem Selbstversuch behaupteten, in der Flasche habe sich nur Tee befunden.
- C wie Chorknabe: Dass der junge Keith einst mit engelsgleicher Stimme und Babyface in Westminster Abbey vor der Queen sang, ist zwar nur schwer vorstellbar, entspricht aber der Wahrheit. Sein preisträchtiger Gig als Chorknabe brachte zwar der Schule Reputation ein, nicht aber dem jungen Sopran. Bei den Klassenkameraden war er fortan als „Tuntenschwuchtel“ verschrien, was seinen rebellischen Geist zweifelsohne gestärkt hat.
- D wie Drogen: Selbst Katzen, die bekanntlich sieben Leben haben, müssen neidisch auf Mister Richards sein, der sich alles einverleibte, was irgendwie dröhnte: Koks, Heroin, LSD, Marihuana, nur kein Speed. Seine Verstecke in den Bühnenlautsprechern sowie seinem Bentley sind legendär, ebenso wie sein Ausspruch, dass er mittlerweile clean sei. „Aber wenn sie etwas Neues erfinden, stehe ich zur Verfügung, um es zu testen.“
- E wie Eskapaden: Das Enfant terrible war noch nie ein Kind von Traurigkeit. Bei den Pfadfindern flog er raus, weil er eine Flasche Whisky zu den Treffen schmuggelte. Bei einem Besuch bei Hugh Hefner fackelte er fast das Playboy-Mansion ab, und für Versicherungen ist der Rock-Exzentriker ein rotes Tuch – weil Alkoholmissbrauch, Leberversagen und/oder Krankheit jede Tour gefährden. Dem einst maßlosen Heroin-Junkie werden Geschichten nachgesagt, die durchaus glaubwürdig klingen – wie jene, dass der Gitarrist einmal pro Jahr zur Blutwäsche in die Schweiz pilgert.
- F wie Frauen: Während Kumpel Mick so ziemlich jede vernaschte, die nicht bis drei auf der Palme war, ist der Gitarrero in puncto Frauen ein Biedermann. Gut, die berühmte Vierecksbeziehung zwischen ihm, Mick Jagger und den Rockerbräuten Anita Pallenberg und Marianne Faithfull hat für gewaltig Rauschen im Blätterwald gesorgt. Doch wirklich wichtig waren nur zwei Damen: Anita Pallenberg und seine Frau Patti Hansen, mit der er an seinem Geburtstag den 35. Hochzeitstag feiert.
- G wie Gitarre: Er sei der „beste schlechte Gitarrist der Welt“, hat Rhythm-and-Blues-Urvater Alexis Korner einmal über den Jubilar gesagt. Er selbst – stolzer Besitzer von angeblich 3 000 Gitarren – formuliert es gewohnt drastisch. Eine auf Open-G gestimmte Gitarre, fünf Saiten, zwei Finger und ein „asshole“ – mehr brauche es nicht für den typischen Rolling Stones-Sound. Sein Lieblings-Spielzeug: eine Butterscotch Blonde Blackguard Telecaster aus den 50er Jahren.
- H wie Humor: Rockveteran Richards hat einen rabenschwarzen Humor. Seine Sprüche sind allerdings nichts für sensible Seelchen. Sein makaberstes Geständnis: Er habe die Asche seines verstorbenen Vaters geschnupft. „Dad hätte das gefallen“, so seine Einschätzung.
- I wie Intros: Virtuose Soli, ausgeklügelte Improvisationen – wer braucht das, wenn man wie Richards kleine, sparsame, fast minimalistische Tonfolgen aus dem Handgelenk tropfen lassen kann. Sein Gitarrenspiel ist unverwechselbar, seine Riffs sind legendär. Da stört auch die ein oder andere schräge Note nicht, die zum schlampig-dreckig-genialen Richards-Sound gehört wie der auffällige Totenkopfring am Finger des Meisters.
- J wie Jagger: „Discoboy“ ist eine der freundlicheren Umschreibungen für den Kumpel aus Sandkastentagen. Seit Jahrzehnten verbindet eine ausgeprägte Hassliebe das Chamäleon und den Rabauken, der auch vor den Genitalien von „Her Majesty Brenda“ nicht halt macht. Doch für die Stones werfen die beiden Herrschaften alle Animositäten über Bord.
- K wie Kumpel: Zu Beginn ihrer Freundschaft hielt er Johnny Depp für den Dealer seines Sohnes Marlon. Doch längst ist der 20 Jahre jüngere Hollywood-Schönling einer der besten Freunde des Geburtstagskindes. Zum Dank hat sich Depp Good Ol’ Keef zum Vorbild für seine Rolle als schusseliger Kapitän in dem Film „Fluch der Karibik“ genommen.
- L wie „Life“: 4,8 Millionen Pfund Vorschuss – nicht schlecht für den einstigen Bürgerschreck, dessen gleichnamige Lebenserinnerungen stolze 527 Seiten füllen. Seine Autobiografie ging nicht nur weg wie warme Semmeln; sie brachte dem Gitarristen bei den „GQ Men Of The Year Awards“ auch den Titel als „Schriftsteller des Jahres“ ein. Und noch eine andere Meldung machte zeitgleich die Runde: Richards schulde der öffentlichen Bibliothek in Dartford 20 000 Pfund Strafgebühren für Bücher, die er vor 50 Jahren ausgeliehen habe.
- M wie Musik: Bescheidenheit ist keine Zier des Rock-Oldies. Doch wenn er über sein Vorbild Chuck Berry spricht, wird er ganz demütig. „Es ist schwer, jemanden zu würdigen, bei dem ich alles geklaut habe“, so der Stones-Gitarrist.
- N wie No Filter Tour: Der Auftritt am 8. Juli in Warschau war definitiv nicht der Schlussakkord für die Stones! Denn die die vier alten Herren wollen es auch 2019 nochmals wissen. Die bisherigen 28 Konzerte brachten es übrigens auf einen Umsatz von 238 Millionen US-Dollar.
- O wie Ohrwürmer: Mit dem fluffigen „The Last Time“ begann die Karriere der Glimmer Twins Jagger/Richards als erfolgreiches Songschreiber-Duo. Jeder Stones-Fan hat wohl seinen eigenen musikalischen Favoriten – der der Autorin: Sympathy For The Devil.
- P wie Palme: Wer den Schaden hat … Es wird wohl immer das Geheimnis des „Ritters der Kokosnuss“ bleiben, wie es 2006 zu dem folgenschweren Sturz auf Fidschi kam, bei dem er sich einen Riss der Schädeldecke zuzog. Die Genesungswünsche – von Bill Clinton bis Jerry Lee Lewis – kommentierte er gewohnt sarkastisch: „Es war eine interessante Vorschau darauf, wie sich meine Nachrufe lesen werden.“
- Q wie Qualm: Zigaretten und Kaffee seien die einzigen Laster, die ihm geblieben seien, sagt der Mann, der mit dem Glimmstängel im Mundwinkel verwachsen zu sein scheint. Der aufmüpfige Zeitgenosse soll gar aus Protest gegen die in Großbritannien geltende Rauchverbote während eines Gigs eine Zigarette zerkaut haben.
- R wie Ritterschlag: Jagger hat ihn bereits. Proto-Anarcho Richards würde dankend ablehnen, denn solche Auszeichnungen seien „etwas für Kriecher“. Eine Würdigung wurde dem lebenden Zombie dann doch zu teil. Als der New Musical Express in der „Most Likely to Die“-Rubrik den Gewinner kürte, belegte Keith den Spitzenplatz – und das nicht nur einmal, sondern zehn Jahre in Folge.
- S wie Schauspiel: Keith Richards Cameo-Auftritt als Piratenvater in der „Fluch der Karibik-Reihe“ – da freute sich nicht nur Johnny Depp. Die ganze Filmcrew sei laut Depp darüber erstaunt gewesen, den für seine Eskapaden bekannten Altrocker schon um acht Uhr morgens in bester Form am Set angetroffen zu haben. Angeblich musste der Newcomer mit dem Furchengesicht nicht mal geschminkt werden.
- T wie Tragödie: Es war die schwärzeste Stunde im Leben des Keith Richards: der Tod seines Söhnchens Tara Jo Jo Gunne, der 1976 mit nur zwei Monaten an plötzlichem Kindstod starb. Richards tourte damals um die Welt: „Wenn ich nicht auf der Bühne gestanden hätte, hätte ich mich erschossen“, so der Rockveteran.
- U wie Überraschung: Nachdem der Rolling-Stones-Gitarrist mit seiner Lebensbeichte „Life“ die weniger jugendfreien Aspekte seines Rock-’n’-Roller-Daseins beleuchtete, wagte sich die Ikone der Coolness unter die Kinderbuchautoren. „Gus & Me“ heißt das Werk, das der Herr Papa gemeinsam mit Töchterchen Theodora schrieb. Gewidmet hat es Keith Richards seinem Großvater Gus, der ihm das Gitarrenspiel beibrachte.
- V wie Vuitton: Die Luxusmarke Louis Vuitton kriegt alle: Michail Gorbatschow, Catherine Deneuve, Steffi Graf – und eben auch Keith Richards. 63 Jahre musste der Künstler alt werden, bis endlich einer sein Bände sprechendes Gesicht als Hingucker für eine Werbekampagne entdeckte. Die Fotos des Weitgereisten inmitten von Koffern und Totenschädel machte die Starfotografin Annie Leibovitz. Das Honorar spendete das Urgestein an die Umweltschutzorganisation „The Climate Project“ von Al Gore.
- W wie Wahlheimat: Was hat sich Richards Nachbar im US-Bundesstaat Connecticut nur gedacht? Angeblich wollte er mit 44 Kilo Sprengstoff die opulente, italienisch anmutende Villa von Good Ol’ Keef in die Luft jagen. Als ob 44 Kilo ausreichen würden, das unsterbliche Urgestein um die Ecke zu bringen? Das haben nicht Hunderte Kilo Drogen geschafft. Der Nachbar wurde rechtzeitig ertappt, und Keith erfreut sich weiter an seinem „Bunker“, wo er auch schon mal den Müll runterbringt.
- X wie X-Pensive Winos: Klar, auch Radaubruder Richards hat mal an einer Solokarriere gebastelt – als Kumpel Mick auf Disko-Diva machte und den tourwilligen Stones-Kollegen einen Korb gab. Drei Platten hat der Rock-Opa zusammen mit seiner Band „X-Pensive Winos“ auf den Markt gebracht, doch übermäßig erfolgreich war die Combo nicht. Was auch für Frontmann Jagger gilt. Denn gut sind die beiden nur als Doppelpack.
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- Y wie Youngsters: Sohn Marlon und die Töchter Angela, Theodora und Alexandra Nicole werden dem Herrn Papa zum Geburtstag gratulieren. Dass Marlon ein halbwegs normaler Mensch geworden ist, grenzt schon an ein Wunder – als Nachkömmling von zwei heroinabhängigen Elternteilen, die den Knirps mit auf Tournee schleppten und zu einer Art Roadie degradierten. Theodora und Alexandra aus der Ehe mit Patti Hansen haben es da deutlich besser, zumal sie im Aussehen Gott sei dank mehr nach der Mama kommen. Ab und zu müssen sie dem vergötterten Vater einen Joint borgen – „doch meist ist es andersrum.“
- Z wie Zukunft: „Die Stones spielen, bis einer den Löffel abgibt“: Das wilde Alphatier, als das man sich Richards immer noch vorstellen darf, denkt nicht an Rückzug aufs Altenteil – schließlich gab sein großes Vorbild Chuck Berry noch mit 81 Jahren den Rock’n’Roller. Wenn stimmt, was US-Präsident Bill Clinton 2011 über den gar nicht weisen Englishmen sagte, können Fans sicher sein, dass dieser Rock-Rüpel mit dem kehligen Lachen noch zu vielen Schandtaten bereit ist. „Den Atomkrieg“ – so Clinton – „überleben nur zwei Lebensformen: Kakerlaken und Keith Richards.“