Ziemlich angriffslustig wirkte das, als Frédéric Bierry noch am Abend des zweiten Durchgangs der französischen Regional- und Départementswahl Ende Juni ein Referendum nach Schweizer Vorbild ankündigte.
Wohl wissend, dass es derzeit kein solches rechtsverbindliches Verfahren für Themen gibt, die vom Parlament entschieden werden, will Bierry, Präsident des Anfang 2021 fusionierten Elsass-Départements mit dem Namen Collectivité européenne d’Alsace (CEA), dennoch die Bevölkerung im Elsass fragen: Was soll mit der Untertagedeponie Stocamine geschehen?
Die zuständige Umweltministerin hat sich für eine Versiegelung entschieden. Zudem will er fragen: Soll es eine Lkw-Maut auf elsässischen Straßen geben und wollen die Menschen nicht doch wieder als eigenständiges Elsass die Region Grand Est verlassen? Dabei ist aber auch in diesem Punkt klar: Paris wird das noch unter der Vorgängerregierung neu geschnürte Paket der französischen Regionen derzeit nicht anrühren.
Gegenspieler Rottner übt sich in pragmatischer Politik
Bierry hat so Paris provoziert, aber auch einen anderen Elsässer, Jean Rottner, Präsident der Region Grand Est, der wie Bierry bei der Wahl vor wenigen Wochen im Amt bestätigt wurde. Rottner hat sich längst mit der Großregion aus Elsass, Lothringen und Champagne-Ardenne abgefunden und übt sich in pragmatischer Politik. Dass die stärkste Kraft bei der jüngsten französischen Wahl das Desinteresse der Menschen gewesen ist, nimmt Bierry als Ansporn.
War Corona schuld, war es die Frustration über die Politik im Allgemeinen oder kann die Bevölkerung mit den Aufgaben denen die Institutionen zwischen kommunaler und nationaler Politik, also Département und Region, nachkommen, kaum etwas anfangen? Dabei geht es bei ihnen um alltagsrelevante Themen wie Infrastruktur, Schulen, soziale Maßnahmen und Hilfen, Wirtschaftsförderung und Standortpolitik. Auch in einem zentralistischen Land wie Frankreich ist die Macht in Paris nicht alles.
Der Bruch einer Mehrheit unserer Bevölkerung mit der Demokratie muss uns zu denken geben.Frédéric Bierry, Elsass-Präsident
Bierrys Ankündigung von Bürgerbefragungen wirkt da wie ein Weckruf und ist ein Versuch, das zerrissene Band zwischen Bevölkerung und Politik zu reparieren. „Der Bruch einer Mehrheit unserer Bevölkerung mit der Demokratie muss uns zu denken geben“, sagt Bierry. „Deshalb müssen wir das öffentliche Handeln weiterentwickeln“
Verfechter des eigenständigen Elsass
Bierry, 1966 in Straßburg geboren und in Schirmeck im Breuschtal (Vallée de la Bruche) aufgewachsen, gilt als ehrgeizig und durchsetzungsstark. Bei der Wahl zur CEA, dem fusionierten elsässischen Département, hat er eine Mehrheit für die bürgerliche Mitte geholt und ist unlängst als ihr Präsident bestätigt worden. Nach einem Jurastudium in Straßburg war Bierry ab 1993 bis 2015 Parlamentarischer Assistent zweier konservativer Abgeordneter der Nationalversammlung. Etwa zeitgleich lernte Bierry auch die Politik von der Basis her kennen: Bis 2015 war er fast 20 Jahre lang Bürgermeister seiner Heimatstadt Schirmeck, bis er diese Ämter aufgab bei seiner Wahl zum Präsidenten des Départementrates Bas-Rhin, der inzwischen in der CEA aufgegangen ist.
Dass sich Bierry für die elsässische Sache einsetzen würde, dass er sich nach der umstrittenen Regionalreform 2015 als einer der überzeugtesten Verfechter eines eigenständigen Elsass erweisen würde, war zunächst nicht abzusehen. Gemeinsam mit Brigitte Klinkert, bis vor einem Jahr noch sein Gegenpart an der Spitze des Haut-Rhin, handelte er jedoch den neuen Status des Elsass als größeres Département mit Sonderkompetenzen aus.
Damit lassen sich eigene Schwerpunkte setzen, bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit etwa oder bei der Zweisprachigkeitsförderung. Verfassungsrechtlich abgesicherte Befragungen gehören nicht dazu.
Bierry hat die Präsidentschaftswahlen in Frankreich im Blick
Wenn Bierry nun die Bevölkerung zu zentralen Themen direkt zu Wort kommen lassen will, dann hat er wie viele in Frankreich zurzeit die Präsidentschaftswahl in neun Monaten im Blick. Das Thema Ostregion hat er frühzeitig im öffentlichen Diskurs platziert, hörbar für alle, die demnächst in den Wahlkampf einsteigen.
Bierry ist Mitglied von Les Républicains, der bürgerlich-konservativen Partei, die bei der letzten Präsidentschaftswahl mit dem Kandidaten François Fillon und dem Skandal um die Scheinbeschäftigung seiner Ehefrau unterging. Mit einem starken Votum und einer entsprechenden Beteiligung bei einer Befragung will sich Bierry den nötigen Rückhalt verschaffen, um den elsässischen Forderungen Nachdruck zu verleihen.