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Festival auf Schlachthof-Gelände

Abschluss-Wochenende beim Atoll-Festival in Karlsruhe: Surreale Bilder mit groteskem Humor

Artistik muss nicht immer Akrobatik bedeuten: Zwei Deutschland-Premieren beim Atoll-Festival in Tollhaus Karlsruhe punkten mit absurdem Humor.

Szene aus der Performance „Work“ des Choreografen Claudio Stellato beim Atoll-Festival im Tollhaus Karlsruhe.
Artistisches Ringen um Freiheit: Szene aus der Performance „Work" des Choreografen Claudio Stellato beim Atoll-Festival im Tollhaus Karlsruhe. Foto: Bernadette Fink

Blindes Vertrauen ist eine Grundvoraussetzung unter Artisten, etwa wenn man sich beim geplanten Sturz in die Tiefe gerade noch rechtzeitig von Kollegen auffangen lässt. Am Abschlusswochenende des fünften Atoll-Festivals im Tollhaus allerdings zeigten nun zwei Produktionen, dass sich auch wahrhaft blind (oder jedenfalls mit sehr eingeschränkter Sicht) artistisch agieren lässt.

Mehr noch: Das Prinzip „Ich seh’ was nicht, was du auch nicht siehst“, ist sogar inhaltliche Grundlage von „Der Lauf“ des belgischen Duos „Le Cirque du Bout du Mond“. Guy Waerenbugh und Baptiste Bizien hantieren mit diversen Objekten und tragen dabei jeweils mit einem Blecheimer über dem Kopf.

Als sähe das nicht absurd genug aus, reihen sie auch noch Experimente aneinander, die selbst mit klarer Sicht eigentlich nur schiefgehen können.

Humor mit Hintersinn

So zeigen sie hintersinnig, wie ein Wachstum irgendwann zwangsläufig einstürzen muss, etwa beim Stapeln von Weingläsern und Ziegelsteinen. Da mischt sich gespannte Erwartung mit purer Gaudi, etwa wenn das Publikum mit Wurfbällen beim großen Abräumen mitmischen darf. Mit den vier Aufführungen in der Fleischmarkthalle wurde zudem das Prinzip gepflegt, mit dem Atoll-Festival auch das Tollhaus-Umfeld zu bespielen, was aufgrund der Corona-Maßnahmen in diesem Jahr weniger möglich war als bisher.

Szene aus der Performance „Work“ des Choreografen Claudio Stellato beim Atoll-Festival im Tollhaus Karlsruhe.
Mit dem Kopf durch die Wand: Das geht auch in der Perfomance „Work" nicht ohne tatkräftige Hilfe. Foto: Bernadette Fink

Ebenfalls unterhaltsam, aber zuweilen auch mit geradezu wütender Wucht warfen sich die vier Akteure der Compagnie Claudio Stellato im großen Tollhaus-Saal in ihre Performance „Work“. Stellato hatte zum ersten Atoll-Festival das begeisternde Holzscheit-Stück „La Cosa“ beigesteuert. In „Work“, ebenso wie „Der Lauf“ als Deutschlandpremiere zu sehen, kommen nun viele unterschiedliche Materialien zum Einsatz: dicke Bretter, lange Nägel, splitternde Sperrholzwände, dickflüssige Farbe und surreale Outfits: Den Anfang gestalten ein Mann mit Känguru-Kopf und einer, dessen Körper bis übers Gesicht hinweg voller Styroporkugeln klebt.

Keiner der beiden kann wirklich etwas sehen - aber sie hantieren mit Hämmern, Nägeln und Sägen, dass einem angst und bange werden könnte, wären das Geschehen nicht voller groteskem Humor.

Szene aus der Performance „Der Lauf" von dem belgischen Ensemble „Le Cirque du Bout du Monde“ beim Atoll-Festival 2020.
Ich seh’ was nicht, was du auch nicht siehst: Die belgische Truppe „Le Cirque du Bout du Monde" arbeitet zum Vergnügen des Publikums mit selbstgewählter Sichteinschränkung. Foto: Bernadette Fink

Als eine Kernszene des Stücks darf jener Moment gelten, als ein Mitglied des Quartetts von den anderen im wahrsten Wortsinn hängen gelassen wird - mit den Ärmeln seines Blaumanns angetackert an der Bretterwand des Bühnenbilds. Wie er sich in minutenlangem Kampf strampelnd und windend aus dieser Bewegungsunfähigkeit löst, ist nicht nur artistisch beeindruckend.

Es hat auch symbolische Ausdruckskraft: Indem er mit der Tücke der Objekte ringt, verwischt er die dick auf die Wand aufgetragene Farbe immer wieder neu. So hat er am Ende nicht nur seine Freiheit errungen, sondern gewissermaßen auch ein Kunstwerk geschaffen. Und daran erinnert, dass hinter der oft leichtfüßig wirkenden Kunst der Artistik eine Menge Arbeit steckt.

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