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Waffenlieferungen im Ukraine-Krieg

Debatte um Offenen Brief: Welche Rolle spielen die Ängste der Kriegsgeneration?

Die Unterzeichner des Offenen Briefes gegen Waffenlieferungen werden teilweise harsch kritisiert. Bislang nicht thematisiert wurde, dass etliche von ihnen als Kinder tatsächlich noch Krieg erfahren haben.

Reinhard Mey, Martin Walser (Kombi)
Prominente Erstunterzichner des Offenen Briefs gegen die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine sind unter anderem der Liedermacher Reinhard Mey (geboren 1942) und der Schriftsteller Martin Walser (Jahrgang 1927). Foto: Gerald Matzka/Ulf Mauder/dpa

Erweisen sich Künstler wie der Liedermacher Reinhard Mey, der Kabarettist Gerhard Polt oder der Schriftsteller Martin Walser als derzeit naive „Putin-Versteher“? Etliche Kritiker des Offenen Briefes, den Mey, Polt, Walser sowie 25 weitere Künstler und Intellektuelle unterzeichnet haben, sehen das so.

Der am Freitag von der Zeitschrift „Emma“ veröffentlichte Brief, der online mittlerweile von mehr als 150.000 weiteren Menschen unterzeichnet worden ist, appelliert an Bundeskanzler Scholz, keine weiteren schweren Waffen an die Ukraine zu liefern.

Sonst drohe ein Dritter Weltkrieg, zudem würde eine Verlängerung des Krieges durch Waffenlieferungen das Leiden der ukrainischen Bevölkerung ausweiten.

Offener Brief an Olaf Scholz: Neun der Erstunterzeichner wurden 1942 oder früher geboren

Diese Argumentation ist von mehreren Seiten vehement kritisiert worden. Was hierbei bislang kaum beachtet wurde: Mey und Polt, beide 1942 geboren, sowie der 1927 geborene Walser gehören zu einer Generation, die in ihrer Kindheit und Jugend selber noch Kriegs- oder direkte Nachkriegserfahrungen durchlebt hat.

Gleiches gilt für die Autorin und Feministin Alice Schwarzer (Jahrgang 1942), den Autor und Filmemacher Alexander Kluge (1932), den Bildhauer Heinz Mack (1931), den Aktionskünstler HA Schult (1939), die Filmemacherin Helke Sander (1937) oder die Filmproduzentin Gisela Marx (1942).

Ich bin ja durch Ruinen gelaufen. Dann seh ich diese Bilder, da kommen bei mir all diese Assoziationen wieder hoch.
Gerhard Polt, Kabarettist (Jahrgang 1942)

Gerhard Polt sagte vor wenigen Tagen in einem dpa-Interview, dass die Bilder aus der Ukraine bei ihm traumatische Kindheitserinnerungen wachriefen.

„Ich bin ja durch Ruinen gelaufen. Dann seh ich diese Bilder, da kommen bei mir all diese Assoziationen wieder hoch“, sagte Polt, der am kommenden Samstag 80 Jahre alt wird. Er erinnere sich etwa an eine Hausfassade, die damals eingestürzt sei und Kinder unter sich begraben habe. Dass es wieder Krieg gebe – „das ist so schlimm“.

Debatte um Waffenlieferungen im Ukraine-Krieg: Video von Reinhard Mey trendet auf YouTube

Von Reinhard Mey hat derzeit ein 2020 aufgenommenes Musikvideo sehr viele Abrufe auf YouTube. Es ist eine Neuaufnahme seines pazifistischen Liedes „Nein, meine Söhne geb’ ich nicht“, in dem er sich gegen Armeen und Dienst an der Waffe positioniert.

Darin heißt es: „Kein Ziel und keine Ehre, keine Pflicht / Sind’s wert, dafür zu töten und zu sterben“. Mey wurde im Dezember 1942 in Berlin geboren. Erstmals veröffentlicht hat er dieses Lied 1986, als der damalige Kalte Krieg noch politische Realität war.

Diese Spätphase des Kalten Krieges ist naturgemäß einem weitaus größeren Teil der Bevölkerung noch persönlich in Erinnerung. Auf diese Erfahrung beruft sich ein Debattenbeitrag des 1975 geborenen Musikers Wolfgang Müller auf „Spiegel Online“.

Dieser erinnert an seine Kindheit in Hessen und seine Angst vor dem Schallmauer-Knall bei Übungsflügen von Kampfjets und dem Probealarm mit heulenden Sirenen: „Die atomare Bedrohung war sehr real, allgegenwärtig, und gefühlt völlig unberechenbar, so wie jetzt“, schreibt Müller und verweist darauf: „Wer erst Mitte/Ende der 80er Jahre geboren wurde, kennt das nicht.“

Biografische Erfahrung aus 80er Jahren wird durchaus thematisiert

Allerdings kritisiert er die Haltung des Briefes als „Täter-Opfer-Umkehr in Reinkultur“ und kommt zu dem Schluss, angesichts der Willkür von Putins Handeln müsse man „die brennende Angst, dass man selbst Opfer werden könnte“ umwandeln „in die klare, aber ruhige Erkenntnis, dass man längst ein markiertes Ziel ist“. Das klingt schlüssig. Der Text legt aber auch offen: Er basiert auf der biografischen Erfahrung, bereits einmal ohne Schaden aus dem Gefühl einer Bedrohung entkommen zu sein.

Differenziert äußerte sich der 92-jährige Philosoph Jürgen Habermas am vergangenen Freitag in der „Süddeutschen Zeitung“. Dort wendete sich Habermas gegen die „moralisch entrüsteten Ankläger“, die eine „reflektiert agierende Bundesregierung“ zu mehr militärischer Unterstützung antreiben wollten.

Deren „kriegstreiberische Rhetorik“ vertrage sich „schlecht mit der Zuschauerloge, aus der sie wortstark tönt“. Zugleich betonte er, die Ukraine ihrem Schicksal zu überlassen, wäre „nicht nur unter politisch-moralischen Gesichtspunkten ein Skandal, es läge auch nicht im eigenen Interesse“. Als Philosoph hat Habermas die aktuelle Situation auf den Punkt gebracht: Es handelt sich um ein Dilemma im wahrsten Wortsinn. Um eine Situation, in der jede Entscheidung unangenehme Folgen haben wird.

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