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Gerät da was aus den Fugen?

Bill Gates und die Grundrechte: Karlsruher Historiker sieht bedrohliches Potenzial bei Corona-Protesten

Am Wochenende haben erneut in zahlreichen Städten gegen die Corona-Politik von Bund und Ländern protestiert. Vielerorts dominierten Stimmen das Geschehen, die die Pandemie als Verschwörung der Eliten betrachten. Die immer schrillere Rhetorik bereitet dem Zeithistoriker Rolf-Ulrich Kunze vom KIT zunehmend Sorgen.

Demonstration in Stuttgart
Eine Protestkundgebung der Initiative «Querdenken 711» in Stuttgart. Foto: Sebastian Gollnow/dpa

„Wir müssen darüber reden, was mit unserer Demokratie passiert ist“, sagt in einer Videoaufnahme aus einer Arztpraxis ein Mann im weißen Kittel, der empört in die Kamera schaut.

Bodo Schiffmann hat nach eigenen Worten kein Verständnis dafür, dass man gerade Millionen Euro in die Entwicklung eines Impfstoffs für eine Krankheit investiert, die er für nicht gefährlicher hält als die Grippe. Der Leiter der Schwindelambulanz Sinsheim vergleicht die Anti-Corona-Maßnahmen mit der Politik in der DDR-Diktatur und schürt auf dem eigenen YouTube-Kanal Misstrauen gegen einen „panischen Staat“, der die Bevölkerung in einer „nie gekannten Art und Weise einsperrt“. Den Kanal erreicht mittlerweile rund 140.000 Abonnenten.

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Für Schiffmann ist die Angst vor der Ansteckung „nicht realistisch“, sind die Infektionszahlen falsch oder manipuliert. Die Analysen des Robert-Koch-Instituts hält der Arzt für „wissenschaftlichen Nonsens“. Seine These lautet: „Diese Epidemie ist vorbei. Punkt“.

Als „einer der vielen neuen Querdenker“ wirbt Schiffmann jetzt für einen Widerstand gegen die etablierten Parteien in den Reihen seiner Mitmachpartei „Widerstand 2020“. Er behauptet, damit sehr erfolgreich zu sein. Eine Gesprächsanfrage unserer Redaktion ließ Schiffmann unbeantwortet.

In den sozialen Medien oder Internet-Foren indes haben Schiffmans Anhänger und andere Verschwörungstheoretiker gerade großen Zulauf. Wilde Theorien und bizarre Behauptungen befeuern teils sehr aufgezeigte Debatten, in denen die Skeptiker oder Gegner hart angegriffen werden.

Und Bill Gates hat die Demokratie gekapert

Sehr beliebt ist unter den Verschwörungstheoretikern die Idee, dass der Microsoft-Begründer Bill Gates hinter der Pandemie steckt. So behauptet der deutsche Autor und Aktivist Ken Jebsen in einem populären Video, dass „die gesamte Welt“ im Visier des mächtigen US-Multimilliardärs stehe, der die Demokratie „gekapert“ habe und gerade die Kanzlerin Angela Merkel dazu benutze, um allen seine geplante Corona-Impfung aufzuzwingen und damit viel Geld zu verdienen.

Die Bill & Melinda Gates Stiftung habe nach Jebsens Informationen die Weltgesundheitsorganisation WHO gekauft und verfolge nun mithilfe der Bundesregierung insgeheim den Plan, in Deutschland eine „Impfung durch die Hintertür“ einzuführen.

Dabei ist Covid-19 für Jebsen vergleichbar mit einer „relativ harmlosen Grippe, die nicht so schlimm ist, wie es immer prophezeit wird“. Jebsens You-Tube-Clip „Gates kapert Deutschland“ wurde mittlerweile 3,1 Millionen Mal aufgerufen.

Die Mobilfunk-Sendemasten sind schuld

Eine weiteres verbreitetes Corona-Mythos lautet, dass der neue Mobilfunkstandard 5G der Grund für die Epidemie ist – entweder, weil 5G das Immunsystem schwächt und den menschlichen Organismus so für das Virus empfänglicher macht, oder weil Sars-CoV-2 selbst per Funk übertragen wird.

Dass es dafür keinerlei wissenschaftliche Beweise gibt, stört die Verschwörungstheoretiker nicht, die in den Niederlanden und Großbritannien Ende April Dutzende Brandanschläge auf Mobilfunk-Sendemasten verübt haben.

Eine andere populäre Theorie, die sich hartnäckig hält, sieht den Corona-Ursprung in einem chinesischen Biowaffenlabor. Der Erreger sei absichtlich in der Stadt Wuhan gezüchtet worden, um die geopolitischen Gegner der Volksrepublik zu treffen – allen voran die USA. Andere glauben eher an einen Laborunfall. Doch auch diese Behauptungen gelten als widerlegt.

Verschwörungstheorien haben eine einschlägige Geschichte

Viele dieser Verschwörungstheorien spielen bei den Corona-Protesten offenbar eine immer größere Rolle, wie zahlreiche Plakate, aber auch die Auftritte einschlägiger Redner auf den Kundgebungen belegen. Ken Jebsen, der Mann mit dem Youtube-Kanal, war etwa einer der Hauptredner bei der Demonstration in Stuttgart am vergangenen Samstag.

Dort protestierten rund 10.000 Menschen gegen die Corona-Politik von Bund und Ländern - teils mit Transparenten, auf denen vor „Faschismus“ gewarnt wurde.

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Der Historiker Rolf-Ulrich Kunze. Foto: KIT

Der Historiker Rolf-Ulrich Kunze vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) hat eine dezidiert kritische Wahrnehmung dieser Proteste. Die Inhalte und Positionen, die auf den Kundgebungen Gehör fänden, seien meist klar im Bereich der Verschwörungstheorien zu verorten. „Und Verschwörungstheorien sind ein Phänomen, das historisch gesehen immer im Umfeld faschistischer und totalitärer Bewegungen eine Rolle gespielt hat.“

Warum Vergleiche zu 1933 nicht passen

Zu Kunzes Forschungsschwerpunkten zählen unter anderem die Nationalismusgeschichte und die Gesellschaftsgeschichte der NS-Zeit. Dass Menschen aufgrund der Corona-Politik von Bund und Ländern ein mögliches Ende des Rechtsstaates befürchten und Vergleiche zu 1933 ziehen, ist für ihn unakzeptabel. „Die Frage ist, welchen Maßstab man überhaupt heranziehen könne, um eine solche Aussage zu treffen“, sagt der Historiker.

Anders als 1933 seien die Institutionen des Staates sicher nicht ausgehebelt, vielmehr sei deren in der Verfassung vorgesehenes Gefüge weiterhin intakt. „Es werden Beschlüsse aller Organe getroffen, das Bundesverfassungsgericht hebt in seinen Urteilen teils die Anordnungen der Regierung auf und auch die Parlamente sind nicht grundsätzlich in ihrer Arbeit eingeschränkt“, beschreibt Kunze.

Damit unterscheide sich die Situation ganz offensichtlich deutlich von der Übernahme des Staates durch die Nationalsozialisten.

Corona-Proteste: Sehnsucht nach einfachen Lösungen

Befürchtungen vor einer neuen Form des Faschismus befallen Kunze mittlerweile dennoch. „Hätte mir vor zehn Jahren jemand gesagt, welche Debatten und welche Rhetorik in der Gesellschaft immer mehr an Raum gewinnen – es wäre schwer zu glauben gewesen.“

Die Pandemie wird zur Verschwörung der Elite umgedeutet und diese Sichtweise wird unter keinen Umständen aufgegeben
Rolf-Ulrich Kunze, Historiker am KIT

Als Zeithistoriker beobachte er mit Sorge, wie verschiedene Themen immer wieder emotionalisiert würden – und wie wachsende Teile der Gesellschaft eine Art Sehnsucht nach einfachen Lösungen entwickelten. Die Corona-Krise sei vor diesem Hintergrund besonders brisant: Sie führe zu einer komplexen Lage, in der es kein von vornherein richtiges oder falsches Handeln gebe.

Zugleich beträfen ihre Auswirkungen praktisch die gesamte Gesellschaft – weswegen jede Meinung und jeder Lösungsvorschlag erst einmal für jeden potenziell anschlussfähig sei. „Grundsätzlich kann man in einer offenen Gesellschaft ja auch über alles diskutieren“, sagt Kunze.

Sorge vor folgenschwerer Dynamik

Das Problem: Bei den Corona-Protesten gewännen Gruppierungen die Deutungshoheit, die an einer offenen Diskussion kein Interesse hätten. „Die Pandemie wird zur Verschwörung der Elite umgedeutet und diese Sichtweise wird unter keinen Umständen aufgegeben. Stattdessen werden immer wieder Gründe ins Feld geführt, warum Gegenargumente konstruiert und nicht stichhaltig seien“, beschreibt Kunze den Vorgang.

„Die Sorge ist, dass aus diesen Protesten letztlich größere Gruppierungen resultieren, die für rationale Argumente nicht mehr erreichbar sind.“ Historische Parallelen ziehen will Kunze zwar nicht, gleichwohl fänden sich in öffentlichen Debatten zunehmend antidemokratische Züge, wie sie auch für die Endphase der Weimarer Republik kennzeichnend gewesen seien. „Was die Geschichte jedenfalls zeigt, ist, dass solche Situationen eine folgenschwere Dynamik entfalten können.“

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