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Jubel im Gerichtssaal

Bundesverfassungsgericht erlaubt geschäftsmäßige Sterbehilfe: Was bedeutet das konkret?

Wer sterben will, muss auch sterben dürfen. Nicht nur Alte und Schwerkranke, sondern auch Gesunde. In einem mit Spannung erwarteten Urteil zur Sterbehilfe hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe das Verbot derartiger Vereine oder Organisationen für nichtig erklärt.

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Heute entschied das Bundesverfassungsgericht, das das Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe gekippt wird. Foto: N/A

Wer sterben will, muss auch sterben dürfen. Nicht nur Alte und Schwerkranke, sondern auch Gesunde. Und niemand kann sie daran hindern, dafür die Dienste von gewerbsmäßigen Anbietern der Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. In einem mit Spannung erwarteten Urteil zur Sterbehilfe hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe das Verbot derartiger Vereine oder Organisationen für nichtig erklärt. Der Gesetzgeber darf gleichwohl bestimmte Regeln aufstellen.

Für einen kurzen Augenblick herrscht angespannte Stille im großen Sitzungssaal des Bundesverfassungsgerichts am Karlsruher Schlossplatz. Eben haben Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle und sein Zweiter Senat ihre fast zwei Stunden andauernde Verkündung des Urteils zur Sterbehilfe beendet. Die acht Richterinnen und Richter erheben sich von ihren Sitzen und wollen den Raum verlassen.

Jubel im Gerichtssaal

Da wird es plötzlich auf der rechten Seite des Saales, wo die Beschwerdeführer und ihre Anwälte sitzen, laut. „Bravo“, ruft ein Mann, „Bravo“, ruft er nochmals, dann brandet Applaus auf. Menschen fallen sich um den Hals und gratulieren sich. „Wir haben auf ganzer Linie gesiegt“, jubelt eine Anwältin.

Auf der linken Seite hingegen herrschen betretenes Schweigen und blankes Entsetzen. Der frühere Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) und die Bundestagsabgeordneten Michael Brand (CDU) und Kerstin Griese (SPD) stecken die Köpfe zusammen und beratschlagen sich.

Kritiker sehen im Urteil die Normalisierung des Suizids

„Ich verhehle nicht, dass ich die Entscheidung insgesamt bedauere“, sagt Gröhe schließlich, sichtlich mitgenommen. Das Urteil bereite „der Normalisierung der Selbsttötung als Behandlungsoption den Weg“. Es dürfe keine Pflicht zur Suizidbegleitung geben, daher sei eine „umfassende Prüfung“ des Urteils nötig, damit der Gesetzgeber die richtigen Konsequenzen ziehen könne.

Doch Gröhe weiß: Der Versuch des Bundestags, bei der Neuregelung der Sterbehilfe im Jahr 2015 durch die Einführung des Paragrafen 217 im Strafgesetzbuch die Tätigkeit der gewerbsmäßig tätigen Sterbehilfevereine zu verbieten, ist auf ganzer Linie gescheitert. Die Hüter der Verfassung haben den Paragrafen nicht nur für verfassungswidrig, sondern sogar für nichtig erklärt. Er hat keinen Bestand, kann auch nicht durch Modifizierungen neu gefasst werden.

Stimmen zu der Entscheidung

„Ein sehr guter Tag für das selbstbestimmte Sterben. Bei einem qualvollen gesundheitlichen Leiden ist nun der ärztlich assistierte Suizid erlaubt. Eine Sternstunde des Deutschen Verfassungsrechtes. Die DGHS strebt nun an, eine Schweiz ähnliche Situation herbeizuführen.“

„Die Hospizbewegung wurzelt in der christlichen Ethik. Sie ist der Überzeugung, dass die Selbsttötung auch für den schwer kranken Menschen keinen sinnerfüllten Ausweg darstellt. Die moderne Palliativmedizin kann heute selbst schwere Krankheitsverläufe für den Patienten zumindest erträglich machen. Deshalb unterstützen wir die Selbsttötung nicht. Gleichwohl müssen wir akzeptieren, dass der Entschluss, sein Leben fortzusetzen oder zu beenden, die wahrscheinlich intimste Entscheidung eines Menschen und damit zugleich höchster Ausdruck seiner Würde ist. Dem hat das Bundesverfassungsgericht in begrüßenswerter Weise mit der Nichtigerklärung von § 217 StGB Rechnung getragen. Zugleich öffnet es für die Neuregelung die Tür zu einer Gestaltung, die den Schutz des Selbstbestimmungsrechts sichert und dabei den Interessen der Allgemeinheit ausreichend Rechnung trägt.“

„Die Streichung des Paragrafen 217 ist zu begrüßen, weil damit die bisherige Rechtsunsicherheit der Betroffenen (d.h. sowohl Patienten als auch Ärzte) beseitigt wird. Jetzt kommt es darauf an, wie der Gesetzgeber die Sterbehilfe regeln wird. Eine Aktive Sterbehilfe darf und wird es in Deutschland nicht geben. Eine Beihilfe wäre unter Umständen in wenigen Einzelfällen denkbar, unabdingbar nach Beratung zumindest eines Palliativarztes, der die Alternativen zum Suizid anbieten kann. Die Entscheidung ist also noch lange nicht getroffen.“

Junge Menschen können nun Sterbehilfe in Anspruch nehmen

In Deutschland können in Zukunft alle Menschen, die freiwillig aus dem Leben scheiden wollen, die Dienste derartiger Vereine in Anspruch nehmen, die tödliche Medikamente zur Verfügung stellen: nicht nur Alte, Schwerkranke oder Depressive, sondern auch Junge und Gesunde. Aktive Sterbehilfe bleibt dagegen weiterhin verboten.

„Die Entscheidung in den vorliegenden Verfahren ist uns nicht leicht gefallen“, sagt Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle gleich zu Beginn. Die Suizidhilfe „rührt an die Grundfesten unserer ethischen, moralischen und religiösen Überzeugungen“. Aber über diese Überzeugungen habe das Gericht nicht zu befinden, stellt er fest.

Patient muss Entscheidung nicht begründen

Vielmehr habe nach den Artikeln 1 und 2 des Grundgesetzes jeder Mensch das Recht auf selbstbestimmtes Sterben. „Dieses Recht schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen.“ Und es bestehe „in jeder Phase menschlicher Existenz“.

Die freie Entscheidung, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen, „bedarf keiner weiteren Begründung oder Rechtfertigung, sondern ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren“.

Bisherige Situation erlaubte keine verlässliche Sterbehilfe

In der 115-seitigen Urteilsbegründung kommen die Richter in den roten Roben zu dem Schluss, dass das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung in Deutschland de facto zu einem Ende des medizinisch begleiteten Suizids geführt habe.

Sterbehilfevereine hätten die Arbeit eingestellt. Ärzte würden aus Sorge vor einer Anzeige und Anklage wegen Verstoßes gegen das Standesrecht nicht helfe. Viele Alte oder Schwerkranke seien nicht mehr in der Lage, in die Schweiz oder die Niederlande zu fahren. So sei eine Situation entstanden, in der dem Einzelnen „keine verlässlichen realen Möglichkeiten verbleiben, einen Entschluss zur Selbsttötung umzusetzen“.

Ähnliche Regulationen wie bei Schwangerschaftsabbrüchen

Ausdrücklich stellt das Gericht fasst, dass der Gesetzgeber das Recht habe, die Suizidhilfe zu regulieren. Nach den Worten Voßkuhles steht ihm „ein breites Spektrum an Möglichkeiten offen“.

Analog zur Beratungspflicht bei Schwangerschaftsabbrüchen könne es gesetzlich festgeschriebene Sicherungsmechanismen wie Aufklärungs- oder Wartepflichten geben. Ebenso sind bestimmte Anforderungen an die Anbieter mit dem ausdrücklichen Recht des Verbots „besonders gefahrträchtiger Erscheinungsformen der Suizidhilfe“ denkbar. Zudem regen die Verfassungshüter eine „konsistente Ausgestaltung des Berufsrechts der Ärzte und der Apotheker sowie „Anpassungen des Betäubungsmittelrechts“ an.

Unter dem Strich aber müssten die Anbieter ihre Bereitschaft zur Suizidhilfe rechtlich umsetzen dürfen, so das Gericht: „Der Gewährleistung des Rechts auf Selbsttötung korrespondiert daher auch ein entsprechend weitreichender grundrechtlicher Schutz des Handelns von Suizidassistenten.“

Vor allem aber, so stellt Voßkuhle klar, gehe es den Gesetzgeber nichts an, wenn ein Mensch aufgrund freier Entscheidung mit Unterstützung von Dritten aus dem Leben scheiden will: „Wir mögen seinen Entschluss bedauern, wir dürfen alles versuchen, ihn umzustimmen, wir müssen seine freie Entscheidung aber in letzter Konsequenz akzeptieren.“

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