Ein EU-Korrespondent muss vor allem eines können: mit Krisen umgehen. Viele Berichterstatter, die nach Jahren in Brüssel in ihre Redaktionen heimkehren, stellen fest, dass sie in ihrem Arbeitsalltag so gut wie keine Normalität erlebt haben. Denn auf dem Kontinent jagt seit den Nullerjahren ein Ausnahmezustand den anderen:
Finanz- und Bankenkrise, Griechenland in Pleitegefahr, Flüchtlingskrise, Turbulenzen um Polen und Ungarn, Abkehr der USA unter Trump, Brexit-Streit, Corona. Und nun der Ukraine-Krieg. So gesehen muss BNN-Korrespondent Knut Krohn geahnt haben, was ihn erwartet, als er im vergangenen Oktober seinen damaligen Arbeitsort Paris verließ, um fortan für unsere Redaktion aus den Schaltzentralen der EU und der Nato zu berichten.
Doch Russlands Angriff im Februar kam für den erfahrenen Journalisten wie für viele völlig unerwartet. Er hatte zum Anlass der Europawoche einen Auftritt bei der Europa-Union in Karlsruhe zugesagt. Ein Referat zum Thema „EU und das Klima“ – wen sollte es jetzt interessieren?
Es merkten alle, dass es in Europa um mehr geht als die Schweinehälften.Knut Krohn, BNN-Korrespondent
Also spricht Krohn zunächst von der neuen Riesenkrise. „Es ist erstaunlich, wie Europa auf Putins Krieg reagiert hat“, sagt der 60-Jährige. Normalerweise werde in Brüssel über alles gestritten. Doch der Angriffskrieg mitten auf den Kontinent – Krohn nennt ihn den „Kiew-Moment“ – sei ein Wendepunkt für die EU gewesen.
„Es merkten alle, dass es um mehr geht als die Schweinehälften. Demokratie und Frieden sind nicht selbstverständlich. Und so wurden in Europa plötzlich Dinge wie Waffenlieferungen möglich, die früher undenkbar waren. Diese große Entschlossenheit fand ich sehr überraschend.“ Der BNN-Kollege nennt es „atemberaubend“, was sich seit etwa zehn Wochen an seinem neuen Standort abspielt. Ein Kriegsrat von Ministern und Regierungschefs löse den anderen ab, zwischendurch rollen Nato-Generäle vor Journalisten Landkarten mit Frontverläufen aus.
Europa im Alarmzustand: „Bei den mehrtägigen Gipfeltreffen erleben wir eine beeindruckende Maschinerie, in der sich viele große und kleine Rädchen drehen“. Mittendrin auch deutsche Spitzenpolitiker wie Robert Habeck und Annalena Baerbock (beide Grüne). Laut Krohn kommen beide in Brüssel sehr gut an. Kanzler Olaf Scholz und Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (beide SPD) dagegen weniger.
Schmerzhafte Entscheidungen für Robert Habeck
Es gilt eben, Farbe zu bekennen in diesen harten Wochen, die auch routinierten Politprofis alles abverlangen. „Als Wirtschaftsminister muss zum Beispiel Habeck gerade sehr schwierige Entscheidungen vertreten, wie den Bau von LNG-Terminals. Ich sehe, dass es ihm fast schon körperliche Schmerzen bereitet, weil er eigentlich dagegen ist“, hat Krohn beobachtet.
Als sehr weitsichtig bezeichnet er die frühen Warnungen von Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) und dessen europäischer Amtskollegen, dass der Krieg zu Exportproblemen für den ukrainischen Weizen in die Entwicklungsländer führen würde. Mit immer schärferen Sanktionspaketen versuche die EU heute, Russland zum Einlenken zu bringen und die schlimmsten Kriegsszenarien zu verhindern.
Ganz ohne den Amtsschimmel geht es in Europa eben nicht.Knut Krohn, BNN-Korrespondent
Krohn nennt die große Einigkeit hinter den Strafmaßnahmen „historisch“ – und muss dennoch lachen, als er von ihrer Umsetzung spricht: „Wir denken, die Sanktionen sind in Kraft getreten. Aber nein, sie müssen zuvor noch im EU-Amtsblatt veröffentlicht werden. Ganz ohne den Amtsschimmel geht es in Europa eben nicht.“
Der deutsche Journalist hat bereits in der Corona-Krise beobachtet, wie die Europäische Union aus einem politischen „Stillstand“ erwacht war. In Krohns Augen zwingt der Krieg nun die Gemeinschaft der 27 Staaten dazu, endlich einige überfällige Reformen anzugehen. Zum Beispiel Mehrheitsentscheidungen, die Blockaden aufbrechen und die Handlungsfähigkeit der EU verbessern sollen.
Oder die Abgabe einiger gesundheitspolitischer Kompetenzen an die Mitglieder. Laut Krohn ist die Motivation für den Wandel gerade sehr stark: „Die Länder haben zum ersten Mal gemerkt, dass wenn alle zusammenstehen, Europa eine Weltmacht sein kann“. Er sieht die gemeinsamen Anstrengungen gegen die Erderwärmung als eine weitere große Zukunftschance für die Union.
Mit dem Plan „Fit for 55“, der den Kontinent bis zur Jahrhundertmitte klimaneutral machen soll, habe sich Europa sehr beeindruckende Ziele gesetzt, sagt Krohn. „Die Idee ist einfach: Wer klimaschädliche Gase freisetzt, soll zahlen“. Änderungen am Emissionshandelssystem (ETS) könnten dazu führen, dass Benzin noch teurer werde. „Die Autolobby ist bereits alarmiert“, berichtet Krohn. Dagegen glaubt er, dass insbesondere die jüngeren Europäer die Reformen begeistert mittragen würden.
Kampf gegen Klimawandel gibt der EU einen Sinn
„Wir könnten weltweit führend werden im Kampf gegen den Klimawandel“, sagt der Brüssel-Korrespondent. „Das könnte der EU endlich einen Sinn geben, den viele Menschen lange vermisst haben.“