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An Bord der "Ocean Viking"

Hebamme rettete Flüchtlinge im Mittelmeer: "Die Welt soll erfahren, was diese Menschen durchgemacht haben“

Die diesjährige Zahl der Flüchtlinge auf der Mittelmeerroute nach Europa ist höher als in den ersten acht Wochen von 2019. Etwa 100 Menschen fanden auf der Flucht den Tod oder sie werden vermisst. Während die Politik über eine EU-weit koordinierte Rettung von Migranten streitet, wollen die Nichtregierungsorganisationen die Menschen in Seenot nicht ihrem Schicksal überlassen. Stefanie Hofstetter aus dem bayerischen Eberhausen leitete vier Monate lang das Medizinerteam an Bord des Schiffs „Ocean Viking“.

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Stefanie Hofstetter begrüßt gerettete Flüchtlinge an Bord der „Ocean Viking“. Die Hebamme aus Süddeutschland hat nach eigenen Worten bei dem viermonatigen Einsatz im Mittelmeer viel Leid erlebt. Foto: MSF Foto: None

Ein misshandelter, gebrochener Teenager, der regungslos auf dem Schiffsboden sitzt, nachts von Albträumen gequält wird und der von seinem Leid in einem libyschen Internierungslager nicht sprechen kann. Das ist das Bild, das Stefanie Hofstetter vor Augen hat, wenn sie von ihrem Einsatz spricht.

Junger Afrikaner erlebte die Hölle

Ein 18-Jähriger, der auf der Flucht zwei Jahre voller Gewalt erlebt hat, der so oft ins Gesicht geschlagen wurde, dass er wegen der vielen Wunden und Abszesse im Mund auf dem Rettungsschiff der Organisation „Mediziner ohne Grenzen“ (MSF) zusammenbrach.

Das sind die Geschichten, die der 31-jährigen Hebamme aus dem schwäbischen Ebershausen seit ihrer Rückkehr aus dem Mittelmeer nicht aus den Kopf gehen. „Es ist wichtig, dass wir sie erzählen“, sagt sie. „Denn die Welt sollte unbedingt erfahren, was diese Menschen durchgemacht haben“.

Stefanie Hofstetter klingt ruhig und beherrscht am Telefon. Ihre ersten Interviews nach dem Abschied von der „Ocean Viking“ im November 2019 waren deutlich emotionaler. Da sprach sie noch von „stressigen Grenzsituationen“.

Man verliere manchmal den Glauben an das Gute und werde ein bisschen hoffnungslos, sagte offen die Frau, die zuvor bereits viel Leid, Not und Gewalt als Helferin in Kongo und der Zentralafrikanischen Republik erlebt hatte.

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Heute schaut sie mit mehr Zuversicht in die Zukunft und glaubt, dass sich die EU in Libyen mehr engagiert und um die Menschen auf der Flucht kümmert. „In Sizilien“, sagt Hofstetter, „haben wir zuletzt viel Hilfsbereitschaft erlebt. Ich hatte dort wirklich das Gefühl, dass wir willkommen sind“.

Nach ihrem ersten, längeren Einsatz im Mittelmeer auf der „Aquarius“ 2018 war die mehrsprachige Hebamme im vergangenen August als Leiterin des vierköpfigen medizinischen Teams auf dem MSF-Schiff „Ocean Viking“ willkommen. Ihre Schilderung des oft dramatischen Alltags an Bord erinnert ein wenig an die Arbeit von Ärzten in einer Notaufnahme.

Brandwunden an Genitalien

Erschöpfte, verwirrte und dehydrierte Menschen mit starken Schmerzen, die nach der qualvollen Enge auf den kleinen Booten zunächst nicht richtig gehen können und sich übergeben. Frauen und Kinder mit Brandwunden an Genitalien und Beinen, die lange einem giftigen Gemisch aus Benzin und Salzwasser ausgesetzt waren. Ein Mann mit einer Schussverletzung, aus dessen Körper sie einen Teil einer Kugel zieht.

Ein anderer, dem sie mehrere Bombensplitter aus dem Bauch entfernen muss. „Man steht im Einsatz mächtig unter Strom, ich wollte schnell helfen und hatte gar keine Zeit, um nachzudenken, was mit all diesen Menschen passiert war“, sagt Hofstetter. „Diese Gedanken kamen dann später“.

Sie erzählt, dass seit dem Wiederaufflammen des libyschen Bürgerkriegs 2018 viele Migranten im nordafrikanischen Land faktisch unter unmenschlichen Bedingungen gefangen seien. „Sie werden misshandelt, von der Straße gekidnappt und in die Lager weggesperrt. Manche werden erschossen. Sie sehen keinen anderen Ausweg, als über das Mittelmeer zu fliehen“.

Frauen fliehen vor sexueller Gewalt

In ihren Gesprächen mit den Geretteten habe sie erfahren, dass viele vor Kriegen in Afrika fliehen würden. Frauen seien oft von dem Wunsch getrieben, sexueller Gewalt, Zwangsverheiratungen und Genitalverstümmelungen zu entgehen. „In diesen Booten findet man auch Migranten aus Bangladesch. Diese Männer wurden von Firmen nach Libyen geschickt und verdienten dort gutes Geld, das sie ihren Familien schickten. Doch nach Beginn des Kriegs verloren sie die Jobs, Pässe, einfach alles.“

Es sei erschreckend, dass die Menschen unverschuldet in eine Konfliktsituation geraten und mangels Alternativen eine lebensgefährliche Seereise riskieren, sagt Hofstetter.

Sie wehrt sich gegen den verbreiteten Vorwurf an die Nichtregierungsorganisationen, sie würden durch ihre Rettungsaktionen erst recht die Migranten nach Europa locken und den Schleusern ein lukratives Geschäft bescheren. „Jeder hat das Recht, sein Heimatland zu verlassen. Wir können nichts daran ändern. Unsere Aufgabe ist es, diese Menschen vor dem sicheren Tod zu bewahren.“

Wärter holten sich nachts die Flüchtlinge

Der medizinischen Teamleiterin zufolge seien die Flüchtlinge an Bord der „Ocean Viking“ erleichtert über die Rettung gewesen – aber nach ihren Erfahrungen in Libyen auch verzweifelt, manche traumatisiert. „Männer wie Frauen berichteten uns von diesem Geräusch der sich öffnenden Tür“, sagt Hofstetter.

„Es passierte nachts in den Internierungslagern: Die Wachen kamen hinein und nahmen Menschen mit, schleiften Frauen heraus. Manche kamen nicht mehr zurück“. Bei ihren Kontrollrundgängen nachts habe sie die schlafenden Menschen deshalb nie mit der Taschenlampe direkt angeleuchtet, um keine bösen Erinnerungen zu wecken, sagt Hofstetter.

Auf dem Schiff hätte sich die Besatzung darum bemüht, die Geretteten respektvoll und behutsam zu behandeln. Darum sei sie auf Fotos bei der Aufnahme von neuen Flüchtlingen ohne Gesichtsmaske zu sehen: „Die Menschen sollen sich bei uns wohl fühlen. Ich habe außerdem ein gesundes Immunsystem und keine Angst vor Ansteckungen“.

"Wir halten zusammen"

Jeder Neuankömmling habe als erstes duschen und seine Kleider waschen können. Um mögliche Konflikte zwischen Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen zu vermeiden, wurde jedem die Grundregel erklärt: „Wir passen aufeinander auf und halten zusammen“. Es habe dennoch Streit wegen der Sprachbarrieren und mangelnder Verständigung gegeben, räumt sie ein.

Obwohl es auch Schwangere unter den Migrantinnen an Bord der „Ocean Viking“ gab, musste die Hebamme nie bei Geburten helfen. Das macht Stefanie Hofstetter wieder seit ihrer Rückkehr nach Ebershausen. Sie spricht mit vielen Menschen über den Alltag auf dem Rettungsschiff und die Geschichten der Migranten.

„Auch unter meinen Freunden und Verwandten haben viele keine Vorstellung von dem, was diese Menschen in die Flucht treibt“, sagt sie. Die Helferin denkt viel über das Erlebte nach, fühlt sich aber dadurch nicht psychisch belastet. „Wenn etwas wäre, könnte ich mich immer an die Psychologen bei MSF wenden“. Im Sommer 2020 will sie wieder auf der „Ocean Viking“ arbeiten.

Laut aktuellen UN-Statistiken kamen seit Jahresbeginn knapp 14.000 neue Flüchtlinge in Europa an, darunter rund 11.400 auf dem Seeweg. Das sind etwa 15 Prozent mehr als im Vorjahr . Die meisten Migranten sind Afghanen. 99 Menschen starben auf der Mittelmeerroute oder werden vermisst. Bis zum Frühjahr 2019 hatte die EU im Rahmen der Mission „Sophia“ Tausende Flüchtlinge aus dem Meer gerettet. „Sophia“ soll demnächst neu aufgelegt werden, um ein Waffenembargo gegen Libyen mit Kriegsschiffen zu überwachen. Die Rettung von Menschen aus Seenot steht nicht im Fokus. Das kritisiert der Karlsruher Bundestagsabgeordnete Michel Brandt , Obmann der Linken im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe. „Noch im Dezember hat Bundeskanzlerin Merkel von Seenotrettung im Mittelmeer gesprochen, meine Erwartung war, dass die Bundesregierung in der EU Druck machen wird. Tatsächlich aber ist nichts geschehen. Die Bundesregierung versteckt sich leider hinter der EU und überlässt die fliehenden Menschen dem Tod im Meer“, sagte Brandt den BNN. Es reiche, dass ein einzelner Staat die Situation als Krise deklariere, und die EU müsste dann handeln, so der Politiker. Brandt hält es für falsch, dass die Große Koalition bei der Aufnahme von Migranten auf die Bremse trete. „Das Mindeste, was Deutschland jetzt tun könnte, wäre es, alle Flüchtlinge aufzunehmen, die mit den Schiffen der Nichtregierungsorganisationen gerettet werden“, fordert er.

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