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Veraltete Bewertungsgrundlage?

In Baden-Württemberg könnten viel mehr Frauenhausplätze fehlen als bislang bekannt

In Baden-Württemberg fehlen vielleicht Tausende Frauenhausplätze. Laut Sozialministerium sind es zwar nur 633 – Expertinnen kritisieren aber, dass das Ministerium veraltete Bewertungsgrundlagen verwende.

Ein bezugsfertiges Zimmer im Pforzheimer Frauenhaus.
Ein bezugsfertiges Zimmer im Pforzheimer Frauenhaus. Foto: Julia Weller

Für Frauen, die von Gewalt betroffen sind und Schutz suchen, ist es erst einmal egal, ob Hunderte oder Tausende Frauenhausplätze fehlen. So oder so ist es für sie bereits schwierig, einen Platz in einem Schutzhaus zu finden. Fast alle Frauenhäuser im Südwesten sind überlastet. In einigen Landkreisen – auch in der Region – gibt es erst gar keins.

Ministerium rechnet pro Frau, nicht pro Einwohner

Nicht egal ist die Frage, wie viele Plätze fehlen, wenn es um die Behebung dieses Missstandes geht. Das baden-württembergische Sozialministerium ließ vergangene Woche mitteilen, im Südwesten bräuchte man 633 zusätzliche Plätze. In Wirklichkeit könnten es jedoch mehrere Tausend sein. Welche Berechnung steckt dahinter?

Idealerweise sollte es einen Platz pro 10.000 Frauen geben, schreibt das Ministerium den BNN. Es beruft sich auf die Istanbul-Konvention, die für Deutschland im Februar 2018 in Kraft getreten ist. Darin stehen zwar keine konkreten Zielvorgaben, die unterzeichnenden Staaten verpflichten sich aber zur Einrichtung von Schutzunterkünften „in ausreichender Zahl“.

In der offiziellen Empfehlung zu diesem Abkommen des Europarats ist allerdings die Rede von einem Platz auf 10.000 Einwohner, nicht auf 10.000 Frauen. Das würde den Bedarf ungefähr verdoppeln. Rechnet man die nötigen Betten für die Kinder dazu, wäre der Mangel sogar bedeutend größer. Dann würden im Südwesten 2.023 Plätze fehlen – das gibt das Ministerium auf BNN-Anfrage zu.

Niedrigere Anforderungen wegen begleitendem Beratungsangebot?

Eine Sprecherin erklärt aber, man könne in Baden-Württemberg den niedrigeren Bewertungsmaßstab – also ein Platz pro 10.000 Frauen – anlegen, weil ein „differenziertes und bedarfsgerechtes Beratungs- und Interventionsangebot besteht“. Demnach könne „von einem deutlich geringeren Platzangebot ausgegangen werden“. Man bräuchte also insgesamt nur 1.385 Plätze für Frauen und Kinder. Fehlen würden dann nicht 2.023 Plätze, sondern nur 633.

Dem widersprechen nun die Expertinnen von der Koordinierungsstelle der Landesarbeitsgemeinschaft Autonomer Frauenhäuser Baden-Württemberg. „Wir kommen bei einer Berechnung nach der Istanbul-Konvention auf andere Zahlen“, erklärt Andrea Bosch auf BNN-Anfrage.

Expertinnen: Diese Empfehlung ist veraltet

Das Ministerium begründe den deutlich niedrigeren Bedarf mit dem Verweis auf ein älteres Dokument aus dem Jahr 2007. „Da gibt es tatsächlich ein Dokument, in dem steht, dass sich die Zahl beim Vorhandensein eines Hilfsangebots, zum Beispiel mit Beratungsstellen, reduziert“, erklärt Bosch. „Inzwischen gibt es aktuellere Empfehlungen. Wir stellen in Frage, dass dieses Dokument als Quelle genutzt werden kann.“

Ein Jahr später sei nämlich der „Final Activity Report“ des Europarates erschienen, also der Abschlussbericht mit endgültigen Empfehlungen zur nationalen Umsetzung der Istanbul-Konvention. In diesem aktuelleren Dokument wurde die Regel „ein Familienplatz pro 10.000 Einwohner“ festgehalten.

„Schon das Dokument von 2007 hat nur absolute Mindestanforderungen formuliert“, sagt Frauenhaus-Mitarbeiterin Bosch im Gespräch mit den BNN. „Wir fordern die vollständige Umsetzung der Istanbul-Konvention mit den aktuellen Empfehlungen.“ Die Einrichtung der 633 Plätze, die laut Sozialministerium fehlen, sei aber ein sinnvolles Zwischenziel, damit würde sich die Zahl der bestehenden Plätze bereits fast verdoppeln.

„Die Schaffung von zusätzlichen 633 Plätzen ist jedoch keine Empfehlung, sondern entsprechend des zugrundeliegenden Dokuments ein absoluter Minimum-Standard mit verbindlichem Charakter, der umgehend realisiert werden muss“, so Bosch.

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