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Porträts von Opfern des Anschlags von Hanau unter der Frankfurter Friedensbrücke.

Zwischen Betroffenheit und Berichterstattung

In Hanau waren andere das Ziel: So erlebte ein Reporter den Tag nach dem Anschlag

Vor einem Jahr tötete ein Rassist in Hanau neun Menschen mit Migrationsgeschichte. Unser Autor war am Tag danach als Reporter vor Ort. Seine Erinnerungen.
3 Minuten
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Eine kleine Straßenkreuzung, abgesperrt mit einem rot-weißen Flatterband, ein Polizist, ein Streifenwagen, über allem dichte graue Wolken – fast nichts deutet an diesem Donnerstagmorgen darauf hin, dass hier am Hanauer Heumarkt wenige Stunden zuvor einer der verheerendsten Terroranschläge in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland seinen Anfang nahm.

Menschen gehen vorbei, manche bleiben stehen. Ansonsten sind hier nur Stille, Kälte und eine Handvoll Journalisten, darunter auch ich.

Voller Kälte eröffnet auch der Rassist Tobias R. am Vorabend um kurz vor zehn hier in den Bars „La Votre“ und „Midnight“ das Feuer. Drei Menschen sterben, R. fährt in den Stadtteil Kesselstadt, wo er auf der Straße und in der „Arena Bar“ sechs weitere Menschen tötet. Später tötet er zu Hause seine Mutter und schließlich sich selbst.

Ich bin hier nicht nur Berichterstatter

Nun, am Morgen, kommt eine Frau mittleren Alters die Straße entlang in Richtung Flatterband. Sie hat Taschen dabei, als ob sie einkaufen war, vielleicht kommt sie auch von der Nachtschicht. Womöglich hat sie von den Ereignissen nichts mitbekommen. Sie unterhält sich mit ein paar Leuten, offenbar Bekannte. Plötzlich schreit sie auf und bricht zusammen. Ihre Gesprächspartner knien neben ihr nieder, bringen sie zu einem windgeschützten Hauseingang, bleiben bei ihr.

Blumen an einer Hausecke gegenüber vom Anschlagsort. Bis zum Abend des 19. Februar 2020 waren es hunderte.
Blumen an einer Hausecke gegenüber vom Anschlagsort. Bis zum Abend des 19. Februar 2020 waren es hunderte. Foto: Bodo Weissenborn

Ich blicke woanders hin, will nicht gaffen. Aber da ist noch mehr. Ich bin hier nicht nur Berichterstatter. Ich bin auch ein Kind der weißen Mittelschicht, wie der Attentäter.

Hanau liegt keine Stunde Autofahrt von meinem damaligen Wohnort Gießen entfernt. Der Anschlag hätte auch in meiner Straße oder aber sonst irgendwo in Deutschland stattfinden können, völlig egal. Ich bin zwar betroffen – getroffen wurden dagegen die Menschen, mit denen ich zusammenlebe, zusammen arbeite und deren Kinder mit meinem Kind in die Kita gehen, in deren Biografie oder der ihrer Eltern oder Großeltern aber irgendwann mal irgendwer nach Deutschland eingewandert ist. Sie waren das Ziel, nicht ich.

Die wirklich wichtigen Fragen haben andere

Menschen in weißen Ganzkörperanzügen kommen aus der „Arena Bar“, Spurensicherung. Das türkische Fernsehen baut ein Stativ auf, ein Reporter im dunklen Mantel und Handschuhen stellt sich davor und macht einen Aufsager. An einer Hausecke gegenüber der beiden Bars liegen ein paar Blumen und stehen Windlichter.

Eine Mitarbeiterin der Spurensicherung am Tatort am Heumarkt.
Eine Mitarbeiterin der Spurensicherung am Tatort am Heumarkt. Foto: Boris Roessler/dpa

Nach und nach kommen weitere Menschen zum Tatort. Viele von ihnen mit Migrationsgeschichte. Ich spreche mit manchen, frage, ob sie etwas mitbekommen haben, ob sie die Opfer kannten oder die Tatorte, frage nach dem Kontext und wie es weitergehen soll. Ich mache meine Arbeit.

Eigentlich will ich mich distanzieren, rechtfertigen, sagen, dass das hier nicht in meinem Namen passiert ist, aber erstens ist es vollkommen irrelevant, was ich denke, und zweitens bin ich mir gar nicht sicher, ob ich wirklich sagen kann, dass dieser Anschlag nichts mit mir und der Gesellschaft, in der ich lebe und die ich mitpräge, zu tun hat. Und die eigentlich wichtigen Fragen haben wohl ohnehin meine Gesprächspartner – aber die kann ihnen niemand so leicht beantworten.

Auf dem benachbarten Marktplatz weht um die Mittagszeit Trauerflor über den Flaggen im eisigen Nieselregen. Im Foyer des Congress Parks ein paar Meter weiter geben Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier und Oberbürgermeister Claus Kaminsky eine Pressekonferenz. Es seien mit die traurigsten Stunden, die diese Stadt in Friedenszeiten je erlebt habe, sagt Kaminsky.

„Natürlich hat er sich als Hanauer bezeichnet“

Am Heumarkt hat der Regen inzwischen aufgehört, das Gedränge wird dichter. Vor allem Journalisten stehen hier, blicken auf ihre Handys und in Kameras, versuchen der Welt auf Deutsch und Türkisch, auf Hebräisch, Französisch, Niederländisch und Arabisch zu erklären, was passiert ist in diesen beiden Bars, deren Türen inzwischen geschlossen bleiben.

Dazwischen Angehörige und Bekannte der Opfer, frühere Klassenkameraden oder Freunde der Eltern. Eine Frau erzählt von einem der Anschlagsopfer: „Er war 37, ist hier geboren. Natürlich hat er sich als Hanauer bezeichnet.“ Natürlich. Was denn sonst?

Irgendwann wird das Flatterband ausgetauscht, an seiner Stelle hängt eine hohe blaue Plane, blau wie der Himmel inzwischen an manchen Stellen. Bald beginnt auf dem Marktplatz die große Trauerfeier mit dem Bundes- und dem Ministerpräsidenten. „Das verändert alles“, hat Bouffier vorhin bei der Pressekonferenz gesagt. Die Kälte ist geblieben. Ich setze mich ins Auto und fahre nach Hause. In Hanau bleiben die Menschen, mit ihren Fragen.

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