Skip to main content

Kriegsflüchtlinge in Deutschland

Integration ukrainischer Flüchtlinge: Forscher warnen vor alten Fehlern

Experten sehen für ukrainische Kriegsflüchtlinge langfristig gute Chancen auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Die Verteilung und Beschulung der ankommenden Menschen seien aber noch nicht optimal, warnen zwei neue Studien.

Große Herausforderung: In Deutschland sind Hunderttausende ukrainische Kriegsflüchtlinge angekommen, meist sind es Frauen und Kinder. Nach ihrer Registrierung in wenigen Wochen wird ein neuer Integrationsprozess mit ungewissen Perspektiven starten.
Große Herausforderung: In Deutschland sind Hunderttausende ukrainische Kriegsflüchtlinge angekommen, meist sind es Frauen und Kinder. Nach ihrer Registrierung in wenigen Wochen wird ein neuer Integrationsprozess mit ungewissen Perspektiven starten. Foto: Annette Riedl picture alliance/dpa

„Wir schaffen das“: Als Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst am 9. März im Landtag die berühmte Devise Angela Merkels aus der vergangenen Flüchtlingskrise zitiert, spricht er vielen Menschen aus der Seele, die geflohene Ukrainer in Deutschland mit offenen Armen empfangen.

Wie damals, 2015, hat die Bundesrepublik angesichts einer humanitären Krise in Europa schnell in einen Willkommensmodus geschaltet. Wie damals ist die organisatorische Herausforderung für Bund, Länder und Kommunen gewaltig. Bis Donnerstag soll es nach Angaben des Bundesinnenministeriums rund 246.000 Einreisen aus dem Kriegsgebiet in das Bundesgebiet gegeben haben.

Tatsächlich dürften jedoch seit der Aktivierung der Massenzustrom-Richtlinie viel mehr Ukrainer hier angekommen sein. „Wir schaffen das“: Den Optimismus vieler Helfer teilen auch die Migrationsexperten. Sie sehen die Integrationschancen der Neuankömmlinge als günstig an, warnen allerdings die Politik davor, einige Fehler aus der Vergangenheit zu wiederholen.

Prognosen noch schwierig

Es gibt noch keine verlässlichen Schätzungen, wie viele Ukrainer in Deutschland temporär eine neue Heimat finden werden. Auch bei der Frage, wie viele nach einem Waffenstillstand zurückkehren würden, zücken die Forscher mit den Schultern. Dagegen lässt sich heute prognostizieren, ob und wie die Geflohenen in Deutschland Fuß fassen, die Sprache lernen und sich auf dem Arbeitsmarkt integrieren.

Eine erste Einschätzung dazu gab vor wenigen Tagen das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) ab. Sie klingt zuversichtlich. Laut IAB sind rund 50 Prozent der Geflüchteten aus der Ukraine Kinder. Da die Männer im wehrfähigen Alter das Kriegsland nicht verlassen können, ist unter den Erwachsenen der Frauenanteil sehr hoch.

Wir müssen früh die Weichen stellen.
Herbert Brücker, Arbeitsmarktforscher

„Es gibt eine anekdotische Evidenz, dass viele der Frauen so schnell wie möglich in Deutschland arbeiten wollen. Wir müssen früh die Weichen dafür stellen“, sagte kürzlich bei einem Pressegespräch des Mediendienstes Integration (MDI) der Arbeitsmarktforscher Herbert Brücker.

Zunächst gelte es aber, ein „gewaltiges Betreuungsproblem“ der geflüchteten Kinder zu lösen und deren schulische Integration auf den Weg zu bringen, so der Mitarbeiter des IAB. Erst dann könnte man mit den Müttern über Jobperspektiven reden.

Baden-Württemberg plant „Willkommensklassen“ für ukrainische Kinder

Wie die ukrainischen Kinder eingeschult werden, ist nicht ganz klar, da die Bundesländer teils sehr unterschiedliche Vorstellungen haben. Nach MDI-Recherchen planen derzeit elf Länder „Willkommensklassen“ mit getrenntem Unterricht und einigen Ausnahmen für Regelunterricht etwa in Kunst oder Musik. Dazu gehört auch Baden-Württemberg.

Dagegen sollen in Bayern, Bremen und Hamburg zugewanderte Kinder getrennt von den übrigen Schülern unterrichtet werden, damit sie besser Deutsch lernen. Vier Länder haben keine Vorbereitungsklassen vorgesehen, wollen aber zusätzlichen Deutschunterricht anbieten. Expertinnen wie Juliane Karakayali von der Evangelische Hochschule Berlin lehnen getrennte Willkommensklassen ab wegen der schlechten Einbindung in das Schulleben und weil die neu zugewanderten Schüler ausgegrenzt würden.

Wir sollten unbedingt eine Parallelbeschulung vermeiden.
Juliane Karakayali, Berliner Soziologin

Außerdem gebe es für solche Klassen keinen festgelegten Lehrplan, und manche Schulen würden angesichts des Mangels an Lehrkräften schlecht qualifizierte Quereinsteiger einstellen. „Wenn es keine einheitliche Vorgaben und keine Kontrolle gibt, wie man mit Flüchtlingskindern umgeht, macht jede Schule, was sie will. Wir sollten deshalb unbedingt eine Parallelbeschulung vermeiden“, warnt die Soziologin.

Der Verband der Lehrer an Beruflichen Schulen in Baden-Württemberg (BLV) hat dazu aufgerufen, ukrainische Lehrkräfte einzustellen, um die Flüchtlinge in ihrer Heimatsprache zu unterrichten. Angesichts der früheren Erfahrungen hält Karakayali das jedoch für keine gute Idee.

Sie vergleicht das mit den „Ausländerklassen“ für Kinder von Arbeitsmigranten in den 60er Jahren: „Damals ging man davon aus, dass die Schüler nicht lange bleiben. Die Folge war ein qualitativ minderwertiger Unterricht, nicht selten ohne Abschluss. Diesen historischen Fehler sollten wir nicht wiederholen.“

Längerer Aufenthalt erleichtert Integration

Wie lange die ukrainischen Flüchtlinge bleiben dürfen, ist heute offen. Zunächst erhalten sie ein Aufenthaltsrecht von einem Jahr. Solange die EU ihre „Massenzustrom-Richtlinie“ nicht beendet, kann es sich automatisch um ein halbes Jahr verlängern. Der Arbeitsforscher Herbert Brücker sieht in dieser Regelung sowohl Vor- als auch Nachteile für die Integration.

Die Menschen lernen aktiver die Fremdsprache, wenn sie länger bleiben.
Herbert Brücker, Arbeitsmarktforscher

Einerseits entfallen dadurch die Asylverfahren, die das Einleben der Flüchtlinge erschweren. Andererseits wäre es günstiger, die Aufenthaltserlaubnis gleich auf drei Jahre auszuweiten: „Die Menschen lernen aktiver die Fremdsprache, und die Unternehmen stellen sie lieber ein, wenn sie länger bleiben“, erklärt der Wissenschaftler.

Brücker schätzt besonders die geflüchteten Ukrainerinnen für den deutschen Arbeitsmarkt als interessant ein. Denn die ukrainischen Frauen hätten ein höheres Bildungsniveau als Männer. Aber auch generell sei das Bildungsniveau in der Ukraine im internationalen Vergleich hoch, berichtet der IAB-Fachmann.

Mit einem Anteil der Hochschulabsolventen von 50 Prozent stellen die hier lebenden Ukrainer die deutsche Akademikerquote von 28 Prozent in den Schatten. Laut dem Berliner Institut sind die Fremdsprachkenntnisse der Ukrainer meist schlechter als beim Durchschnitt der Migranten. Dafür würde die Sprachkompetenz wegen der guten Bildung mit den Jahren überdurchschnittlich schnell anwachsen.

Das IAB prognostiziert bei den Ukrainern eine langsamere Integration in den deutschen Arbeitsmarkt, aber langfristig eine höhere Erwerbstätigenquote als bei vielen anderen Flüchtlingen. Etwa ein Drittel der ukrainischen Migranten, so die derzeitige Erwartung, wird hier dennoch eher schlecht bezahlte Aushilfsjobs bekommen.

Ist der Königssteiner Schlüssel wenig effektiv?

Deutschland würde einen Fehler begehen, wenn die Ukrainer nach dem sogenannten Königssteiner Schlüssel zwischen den Bundesländern und Kommunen verteilt würden, sorgt sich Herbert Brücker: „Denn das würde dazu führen, dass viele Menschen in strukturschwachen Regionen mit hohen Arbeitslosenquoten landen.“ Dies sei Gift für die Integration.

Der Forscher schlägt deswegen vor, bei der Verteilung stärker die Beschäftigungschancen, die Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur und die Verfügbarkeit von Integrationsprogrammen mit zu berücksichtigen. Das IAB hat durchgerechnet, dass es die Länder 200 bis 300 Millionen Euro mehr kosten würde. „Das wird vielen nicht gefallen“, sagt Brücker, „aber wir sollten rational vorgehen“.

nach oben Zurück zum Seitenanfang