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Interview

Alt-Bundespräsident Joachim Gauck: „Unsere Freiheit wird in Arztpraxen und Impfzentren verteidigt“

Der frühere Bundespräsident Joachim Gauck spricht im Interview über die Bedeutung der Solidarität und warum er eine Impfpflicht in der Corona-Krise akzeptieren kann.

Altbundespräsident Joachim Gauck spricht an der Christian-Albrechts-Universität mit Journalisten. Gauck besucht die Kieler Forschungsstelle Toleranz (KFT) an der Universität zu einem Gespräch „Wie geht Toleranz?“.
„Die Freiheit der Erwachsenen“: Joachim Gauck, Bundespräsident a. D., wirbt dafür, für andere Menschen frei zu sein und sie zu schützen. Foto: Axel Heimken/dpa (Archiv)

Joachim Gauck,1940 in Rostock geboren, war evangelischer Pfarrer, eines der Gesichter der friedlichen Revolution in der DDR und Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen.

Von 2012 bis 2017 war er Bundespräsident. Selbst als Präsident a. D. wird er protokollarisch korrekt noch mit „Herr Bundespräsident“ angesprochen – auch von unseren Korrespondenten Stefan Lange und Rudi Wais.

Ihnen hat Gauck im Interview unter anderem erzählt: „Die eigene und unser aller Freiheit wird nicht mit kruden Parolen auf der Straße, sondern in Arztpraxen und Impfzentren verteidigt.“

Herr Bundespräsident. Ihr Lebensthema ist die Freiheit. Wie sehr ist sie durch die Pandemie bedroht?
Joachim Gauck

Wenn man älter wird, lernt man, dass es nicht nur eine Freiheit von Zwang, von Unterdrückung und von Einschränkungen aller Art gibt, sondern auch eine Freiheit zu etwas. Das ist die Freiheit der Erwachsenen. Sie entsteht, wenn man aus einer Phase des jugendlichen Überschwangs, in der das Ich noch im Zentrum steht, übergeht in eine Phase, in der man andere Menschen liebt und schätzt und sie mindestens so wichtig nimmt wie sich selbst.

Diese Form frei zu sein, für jemand anderen, für einen Beruf oder die Kunst, schafft Verbindlichkeit und Vertrauen. Diese Form der Freiheit kann uns sogar glücklicher machen als die andere, auf sich selbst bezogene Freiheit.

Heißt das, übertragen auf die Pandemie: Solidarität ist nichts Verpflichtendes, sondern gelebte Freiheit?
Joachim Gauck

Ja. Und wir haben es in den vergangenen Monaten immer wieder gesehen: Die große Mehrheit schränkt sich ein, um Andere zu schützen und der Gesellschaft eine baldige Rückkehr in einen unbeschwerten Alltag zu ermöglichen. Die eigene und unser aller Freiheit wird nicht mit kruden Parolen auf der Straße, sondern in Arztpraxen und Impfzentren verteidigt.

Selbst wenn nun im Parlament über die Impfpflicht debattiert wird und die Regierung dafür wirbt, geschieht dies gestützt auf wissenschaftlichen Expertisen und nicht aus dem regulatorischem Übermut einer Regierung heraus. Wir leben ja nicht in Russland, in der Türkei oder in China, wo die Menschen den Mächtigen immer misstrauen müssen.

Wie sind Sie denn mit dem Krisenmanagement der alten Bundesregierung zufrieden?
Joachim Gauck

Wenn wir auf den gesamten Pandemie-Verlauf und auch auf viele unserer europäischen Nachbarländer schauen, dann sind wir, was etwa die Todesfälle im Verhältnis zur Einwohnerzahl oder die wirtschaftlichen Folgen anbelangt, bisher ganz gut durch diese Krise gekommen. Dies können wir der Vorgängerregierung positiv anrechnen.

Ich kann aber nachvollziehen, dass sich viele Bürgerinnen und Bürger in den letzten Monaten mehr Entschlossenheit im Bund und in den Ländern gewünscht hätten. Tatsächlich hat die Politik angesichts der anstehenden Wahlen im Spätsommer einen Gang zurückgeschaltet und härtere Entscheidungen gescheut.

Nun sehen wir glücklicherweise, dass die – wenn auch recht spät – beschlossenen Maßnahmen Wirkung zeigen und sich die Lage etwas beruhigt. Und vielleicht vergönnt uns, wenn wir uns besonnen verhalten, die heraufziehende Omikron-Welle noch ein entspanntes Weihnachten.

In dem Durcheinander von sich ständig ändernden Regeln, Inzidenzen und Hospitalisierungsraten ist es schwer, den Überblick zu behalten. Hat die Politik die Menschen so nicht eher verschreckt als sie mitzunehmen?
Joachim Gauck

Eine pandemische Lage stellt die politische Kommunikation natürlich vor enorme Herausforderungen. In dieser Situation eine politische Entscheidung zu treffen, ist das eine. Sie auch den Menschen, die eher unpolitisch sind, zu erklären und zu vermitteln ist das andere.

Und der zweite Teil wird zuweilen vernachlässigt. Gleichzeitig wissen diejenigen, die unserer Demokratie schaden oder sie gar beseitigen wollen, die Unsicherheit, die Ängste für ihre Zwecke zu nutzen. Dies gelingt ihnen auch, weil sie sich nicht um Fakten kümmern müssen.

Die scharfen Töne, die einen Mann wie Markus Söder bundesweit populär gemacht haben, die Logik der immer härteren Maßnahmen: Hat die Pandemie in Politik und Gesellschaft eine neue Lust am Autoritären geweckt?
Joachim Gauck

Das glaube ich nicht. Es gibt im Osten teilweise bis heute keine wirklich gefestigte Tradition der Zivilgesellschaft. Dort existiert ähnlich wie in den Ländern Mittel- und Osteuropas noch immer eine etwas andere politische Kultur.

Dort gab es über lange Jahrzehnte keine freien Gewerkschaften, keine freien Medien, keinen demokratischen Meinungsaustausch, keine freien Wahlen: Da entwickelt sich ein anderes Naturell in einer Gesellschaft. Eine Minderheit ist daher noch geprägt von den Verhaltensmustern der durchherrschten Gesellschaft. Aber dadurch wird unsere Gesellschaft insgesamt nicht autoritärer.

Wenn es sich nur um eine Minderheit handelt: Ist die Sorge vor einer zunehmenden Spaltung dann übertrieben?
Joachim Gauck

Ich bin froh, dass Sie das so vorsichtig formulieren. Mir wird mit dem Begriff der Spaltung etwas zu leichtfertig hantiert. Er kommt uns rasch über die Lippen, weil wir Deutschen sehr harmoniebedürftig sind und uns schnell aufregen über die harschen Debatten der beiden Lager in der Pandemie.

Natürlich artikuliert sich unter den Geimpften viel Unmut über die Ungeimpften und die Impfgegner – eine Form der Spaltung die automatisch entstanden ist und die gegenüber jenen sogar erforderlich ist, die unsere Demokratie hassen und sich aktiv gegen unseren Staat wenden. Mit der Einführung einer Impfpflicht hätten wir zwar auch eine Spaltung. Aber diese hätte einen Mehrwert für die gesamte Gesellschaft.

Wenige Bereiche des Lebens schützt unser Rechtsstaat so wie unsere Wohnung, unsere Daten und unsere Körper. Wie passt eine Impfpflicht in die Tradition des liberalen Rechtsstaats?
Joachim Gauck

Auch als liberaler Demokrat kann ich eine solche Maßnahme akzeptieren, weil die Impfpflicht meine persönliche Freiheit in einem insgesamt nur sehr kleinen Sektor begrenzt. Der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit ist im Verhältnis zu seinem Nutzen eher gering. Wenn die Appelle zum Impfen nicht ausreichen, ist die Impfpflicht die naheliegende Lösung. Es ist auch kein Novum, dass in einer liberalen Demokratie verschiedene Grundrechte gegeneinander abgewogen und punktuell eingeschränkt werden müssen. Und so schützt selbst eine verpflichtende Impfung die Gesellschaft der Freiheit, jedenfalls dann, wenn die Verhältnismäßigkeit beachtet wird.

Wie groß ist eigentlich Ihr Vertrauen in die neue Bundesregierung?
Joachim Gauck

Mein Vertrauen ist angemessen groß, schließlich lassen sich alle Parteien der demokratischen Mitte zurechnen. Natürlich hat die Koalition auf Bundesebene noch experimentelle Züge, andererseits haben Liberale, Grüne und Sozialdemokraten große Flexibilität und Verantwortungsbewusstsein gezeigt, um sie zu ermöglichen. In allen drei Parteien haben sich die Realisten durchgesetzt, deshalb kann die Ampel auch funktionieren.

Im Februar wird der Bundespräsident neu gewählt. Was halten Sie von der Forderung aus der CDU, das nächster Staatsoberhaupt müsse eine Frau sein?
Joachim Gauck

Bisher hat man leider immer nur dann Frauen nominiert, wenn die Erfolgsaussichten gering waren. Ich habe daher begründete Zweifel, ob die aktuelle Überlegung politisch wirkmächtig werden kann.

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