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Massenvernichtungswaffen

Könnte Russland Chemie- und Biowaffen in der Ukraine einsetzen?

Nach US-Angaben verbreitet Moskau Informationen über Biowaffen und Kampfstoffe in der Ukraine, um sie womöglich im Angriffskrieg selbst zu nutzen. Berichte über geheime Labore lassen sich schwer verifizieren, allerdings hat eine Reihe von Anschlägen in den vergangenen Jahren die Aufmerksamkeit auf den Kreml gelenkt.

Schwere Vorwürfe: Wassili Nebensja, Botschafter von Russland bei den Vereinten Nationen, hat im UN-Sicherheitsrat die Ukraine beschuldigt, biologische Waffen zu entwickeln.
Schwere Vorwürfe: Wassili Nebensja, Botschafter von Russland bei den Vereinten Nationen, hat im UN-Sicherheitsrat die Ukraine beschuldigt, biologische Waffen zu entwickeln. Foto: Uncredited picture alliance/dpa/UN Web TV/AP

US-Präsident Joe Biden hält es für möglich, dass Kremlchef Wladimir Putin in seinem Krieg gegen die Ukraine chemische Waffen einsetzen könnte. Eigentlich sollte Russland solche Waffen gar nicht mehr besitzen, die alten sowjetischen Bestände müssen längst vernichtet sein. Daran gibt es aber Zweifel.

Umgekehrt beschuldigt Russlands Regierung die Ukraine, mit US-Unterstützung ein biologisches Waffenprogramm zu betreiben. Moskau warnt zudem vor einem möglichen chemischen Angriff der Ukrainer im Krieg. Was steckt hinter all diesen Vorwürfen?

Unser Redaktionsmitglied Alexei Makartsev beantwortet einige wichtige Fragen.

Die USA warnen, dass Russland in der Ukraine chemische Waffen einsetzen könnte: Ist das vorstellbar?

Militärexperten können sich solch ein Szenario grundsätzlich vorstellen, wenn Russlands Offensive mit konventionellen Waffen in der Ukraine nicht schnell genug vorankommt. Chemische Kampfstoffe haben aus militärischer Sicht zwei Vorteile: Erstens ist diese Waffe wie kaum eine andere (außer Atomwaffen) geeignet, um den Kriegsgegner zu demoralisieren und Angst zu erzeugen. Anders als bei Atomwaffen gibt es zudem keine verheerenden Zerstörungen, und die Gifte können von Spezialisten chemisch neutralisiert werden, weswegen eigene Einheiten nicht gefährdet werden.

Aber Chemiewaffen sind doch international geächtet, darf Russland sie überhaupt besitzen?

Nein, weil sich das Land 1993 der entsprechenden Konvention angeschlossen hat. Damit verpflichtete sich Russland auch, bis spätestens 2012 die geschätzten 40.000 Tonnen Kampfstoffe wie Sarin und VX aus der Sowjetzeit zu vernichten und keine neuen Waffen herzustellen. Im Herbst 2017 erklärte Putin, die letzten verbliebenen C-Waffen beseitigt zu haben. Zwar wurde die Abrüstung danach verifiziert durch die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW), doch die Regierungen und Geheimdienste im Westen bezweifeln, dass Russland wirklich keine C-Waffen besitzt.

Was ist der Grund für diese Zweifel?

Es gab einige Anschläge gegen russische Ex-Geheimdienstler und politische Gegner des Kreml, die in den Westen geflohen waren. In den Fällen Litwinenko, Skripal und Nawalny, aber auch bei weiteren verübten und versuchten Morden in Russland mit politischem Hintergrund wurden nachweislich radioaktive Gifte und chemische Kampfstoffe wie Nowitschok und Polonium-210 benutzt. Manche dieser Stoffe, so die einhellige Expertenmeinung, können nur aus staatlichen Waffenlaboren stammen und stünden Privatpersonen wie kriminellen Banden nicht zur Verfügung. Fachleute wie der Moskauer Chemiker Lew Fjodorow haben kritisiert, dass ihr Land einen Teil der alten Chemiewaffen aus der Sowjetzeit einfach vergraben habe oder heimlich verstecke, zum Beispiel in einem Lager nahe der Stadt Tscheljabinsk.

Im Syrien-Krieg wurden wiederholt chemische Waffen eingesetzt, trägt Russland als engster Verbündeter des Diktators Baschar al-Assad die Verantwortung dafür?

Offiziell nicht, aber Russland hat die Aufklärung dieser Verbrechen behindert und mehrfach versucht, die Ergebnisse der internationalen Untersuchungen zu diskreditieren. Außenminister Sergej Lawrow hat abgestritten, dass es in Syrien 2013 und 2018 solche Angriffe gegeben hat. Die Verantwortung für die grausame Tötung von mehr als 1.400 Menschen trägt letztlich die syrische Regierung. Es gibt aber Vorwürfe, wonach Russlands Regierung Assad finanziell und durch die Bereitstellung des militärischen Know-hows geholfen haben soll, C-Waffen herzustellen.

Was sagt Russlands Regierung zu den Vorwürfen von US-Präsident Biden?

Sie versichert, keine Chemiewaffen mehr zu lagern und niemals Nervengifte wie Nowitschok entwickelt zu haben. Russische Wissenschaftler und Politiker beschuldigen ihrerseits die USA, unerlaubt Tausende Tonnen chemischer Kampfstoffe zu besitzen. Beweise dafür wurden jedoch nicht präsentiert. Seit der Annexion der Krim und dem Beginn des Bürgerkrieges in den Gebieten Lugansk und Donezk erheben Russland und die Separatisten außerdem immer wieder den Vorwurf gegen die Ukraine, heimlich Chemiewaffen zu besitzen und sogar einzusetzen.

Was konkret wird behauptet?

2014 berichtete der damalige Chef der sogenannten Donezker Volksrepublik, dass die ukrainische Armee die Rebellen mit Phosphorbomben angegriffen habe. Solche Bomben werden wegen ihrer Giftigkeit oft auch zu C-Waffen gezählt. Ende 2021 gab ein anderer Anführer der Separatisten bekannt, dass die USA angeblich Behälter mit Nervengift in die Ukraine geliefert haben, die von Drohnen abgeworfen oder in Granaten verschossen werden sollten. Derlei Behauptungen mehren sich seit dem russischen Einmarsch. Mal heißt es, dass „ukrainische Nationalisten“ 80 Tonnen Ammoniak für einen Angriff bereithalten würden, dann wird aus den „befreiten Gebieten“ die Entdeckung von versteckten Stoffen gemeldet, deren Explosion zu „katastrophalen Folgen“ für die Bevölkerung hätte führen können.

Gibt es dafür Beweise?

Nein. Trotzdem spricht das Verteidigungsministerium in Moskau von „glaubwürdigen Hinweisen“, wonach der ukrainische Geheimdienst SBU einen Chemiewaffenangriff vorbereiten würde, um anschließend die Schuld dafür Russland in die Schuhe zu schieben. Umgekehrt wird im Westen befürchtet, dass Moskau gezielt die Berichte über angebliche ukrainische Massenvernichtungswaffen verbreiten könnte, um solche selbst einzusetzen.

Wie reagiert die ukrainische Führung?

Es ist anzunehmen, dass im Kalten Krieg in der Ukraine wie in anderen Sowjetrepubliken solche Waffen erforscht und produziert wurden. Präsident Wolodymyr Selenskyj bestreitet jedoch, dass sein Land sie heute noch besitzt. Nach seinen Worten beschäftigen sich „die noch aus der Sowjetzeit bestehenden Labore“ mit „normaler Wissenschaft“ und nicht mit militärischen Technologien. Moskaus Staatspropaganda deutet alleine die Erwähnung solcher Labore als offizielles Eingeständnis, dass die Ukraine „an mindestens 30 Standorten“ Biowaffen herstelle, um sie womöglich bald gegen Russland einzusetzen. Wie es heißt, sollen darunter Erreger sein, die „bestimmte ethnische Bevölkerungsgruppen“ gezielt infizieren sollen. Unabhängige Experten in Russland haben derlei Behauptungen als „haarsträubende und hasserfüllte Lügen“ bezeichnet, die keinen Bezug zur Realität hätten.

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