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Sorgen über Gewalt und Proteste

„Mir sträuben sich die Haare“: Russen in der Region über den Fall Nawalny

Der politische Konflikt in Moskau um den inhaftierten Kremlgegner Alexei Nawalny lässt viele Russen in der Region nicht kalt. Manche unterstützen Putin, andere sind entsetzt über das harte Durchgreifen der Staatsmacht gegen ihre Kritiker.

In der Ferne der Heimat so nah: Viele Russen verfolgen aufmerksam im Internet und Fernsehen den sich zuspitzenden Konflikt in ihrem Heimatland um den Fall Nawalny - doch längst nicht alle sind auf der Seite des Kremlgegners.
In der Ferne der Heimat so nah: Viele Russen verfolgen aufmerksam im Internet und Fernsehen den sich zuspitzenden Konflikt in ihrem Heimatland um den Fall Nawalny - doch längst nicht alle sind auf der Seite des Kremlgegners. Foto: Christoph Schmidt picture alliance / Christoph Schmidt/dpa

„Wieso, in Russland ist doch alles in Ordnung?“ So lautet eine der ersten Reaktionen, wenn man sich in der Facebook-Gruppe „Russen in Karlsruhe“ nach Meinungen zu Massenprotesten, Gewalt gegen Demonstranten in Moskau und dem international hoch beachteten Konflikt um den inhaftierten Kremlgegner Alexei Nawalny umhört.

2.360 Teilnehmer zählt die seit Februar 2018 existierende, badische „Russen-Gemeinde“ im sozialen Netzwerk. Sie vereint Russlanddeutsche, russische Einwanderer, Studenten und Arbeitnehmer, aber auch russischsprachige Migranten aus Ländern der früheren Sowjetunion, die Tipps austauschen, Anzeigen aufgeben und diskutieren.

Die BNN fragten die Gruppenmitglieder, wie sie zu der aktuellen politischen Entwicklung in Russland stehen und ob die dramatischen Ereignisse in Moskau sie persönlich berühren. Das russische Stimmungsbild in der Region erscheint düster und zweigeteilt: Manche polemisieren scharf gegen die Staatsmacht in Gestalt des autoritär regierenden Präsidenten Wladimir Putin, andere sympathisieren mit den Protesten.

Sie stehen selten im Mittelpunkt, sorgen aber alle paar Jahre bei Wahlen kurzzeitig für Schlagzeilen: die Aussiedler und russischsprachigen Migranten in Baden gelten als politisch engagiert, konservativ und tendenziell AfD-nah. Die Partei erzielte 2019 bei der Europawahl in Pforzheim mit 17,6 Prozent ihr bestes Ergebnis in den Stadt- und Landkreisen Baden-Württembergs. Im Karlsruher Stadtteil Oberreut gab bei der Bundestagswahl 2017 fast jeder Vierte seine Stimme dem AfD-Kandidaten Marc Bernhard.

Mehrere Tausend russische Staatsbürger leben in der Region

Der Stadtteil im Südwesten Karlsruhes mit einer eigenen Gesangsgruppe „Wolga-Wolga“ hat einen relativ hohen Anteil an russischen Migranten und Russlanddeutschen. In Pforzheim ist vor allem der Stadtteil Haidach wegen der Spätaussiedler aus der Ex-Sowjetunion als „ein Stück Russland am Schwarzwaldrand“ zu bundesweiter Bekanntheit gekommen. Pforzheim und auch Rastatt sorgten 2016 für Schlagzeilen, als sich dort Hunderte Spätaussiedler versammelten, um gegen eine angebliche Vergewaltigung eines 13-jährigen russlanddeutschen Mädchens (Fall Lisa) in Berlin zu protestieren.

In der Region leben aber auch zahlreiche russische Staatsbürger: Ende 2018 waren es etwa 4.600, wobei Karlsruhe nach Stuttgart den zweiten Platz in der entsprechenden Rangliste der Städte im Südwesten einnahm. Was denkt also die große russischsprachige Community über den Fall Nawalny?

Die Proteste waren verboten, also darf die Polizei Gewalt anwenden.
Wladimir Bendig aus Karlsruhe

Wladimir Bendig lebt seit 14 Jahren in Karlsruhe und hegt ein tiefes Misstrauen gegen den inhaftierten Kremlgegner: „Der ,deutsche Patient’ hat viele Fakten aus seinem Lebenslauf verschleiert, ich will nicht, dass er Russlands Präsident wird.“ Der 32-jährige Lokführer hält das harte Durchgreifen der Staatsmacht gegen den Oppositionellen und die regierungskritischen Demonstranten für absolut richtig: „Die Proteste waren verboten, also darf die Polizei Gewalt anwenden. Ja, es gab teils zu viel Gewalt, aber so war es schon immer in Russland.“

Bendig ist überzeugt, dass Russland keinen Machtwechsel braucht („weil die Menschen dazu nicht bereit sind“) und dass seine Heimat „niemals so leben wird wie Europa“. Leo Reinhardt aus Ettlingen geht noch weiter: Nach Meinung des 37-jährigen Gitarrenlehrers taugt der Westen nicht als Vorbild für Russland: „Wir kriegen gesagt, die Demokratie sei eine heilige Kuh, die angebetet werden muss. Aber vielleicht braucht man nicht immer und nicht überall die Demokratie.“

Deutschland ist ein Marionettenstaat, der nach dem Willen der USA handelt.
Leo Reinhardt aus Ettlingen

Reinhardt meint zum Fall Nawalny, dass der russische Staat „humaner“ gegen „nicht genehmigte“ Demonstrationen vorgeht als die europäischen Länder. Seine Wahlheimat Deutschland nennt der Musiker einen „Marionettenstaat, der nach dem Willen der USA handelt“. Zustimmung gibt es für die AfD, die das Ziel verfolgt habe, „die idiotische Politik der Besiedelung Deutschlands durch Flüchtlinge zu beenden“.

Viele Missstände werden beklagt

Es gibt auch ganz andere Meinungen. „Die Verhaftung Nawalnys ist willkürlich und politisch motiviert. Mir sträuben sich die Haare von den Gedanken daran, was sich die Staatsmacht erlaubt, und dass so viele Menschen das unterstützen“, schreibt Irina Weber aus Rheinstetten. Die Sozialpädagogin stammt aus Moldawien, aber sie spricht fließend Russisch und fühlt sich mit Russland eng verbunden, auch weil dort viele ihrer Freunde leben. „Leider kann ich mich nicht mehr mit ihnen unterhalten“, bedauert die Migrantin. „Sie schreiben mir, dass Deutschland verfault, weil hier nur Schwule leben. Putin dagegen sei toll, weil er keine homosexuellen Familien erlaube.“

Es tut weh, an die Menschen in meiner Heimat zu denken.
Alla Malyschko aus Waldbronn

Die 38-Jährige ist zutiefst pessimistisch: „Es gibt in Russland keine Demokratie. Putin wird sich etwas einfallen lassen, um die jungen Russen einzuschüchtern. Danach wird es keine Massenproteste mehr geben“. Auch Alla Malyschko (32) aus Waldbronn klingt sehr bedrückt. „Es ist eine katastrophale Situation, was die Meinungsfreiheit angeht. Massenverhaftungen von Demonstranten zeigen, dass es null Demokratie in Russland gibt. Es tut weh, an die Menschen in meiner Heimat zu denken.“

Ein Schrei der Verzweiflung, doch häufiger prägt ein finsterer Fatalismus die Gedanken vieler Russen an die Situation in ihrer Heimat. Sie beklagen viele Missstände und sehen dennoch keinen Weg nach vorne. „Die Menschen sind die Gesetzlosigkeit leid, sie leiden an ihren winzigen Renten und der nutzlosen Hochschulbildung, an der unterentwickelten Infrastruktur in den Städten und den aussterbenden Dörfern. Ich könnte diese Liste endlos fortsetzen“, schreibt Alla Malyschko.

Geld und Korruption entscheiden alles in Russland.
Helen Gottfried aus Malsch

„Russland liebt es, betrogen zu werden und kann sich kein Leben ohne Zaren mehr vorstellen“, befürchtet Victoria Janzen. Und Helen Gottfried aus Malsch stellt frustriert fest: „Ich kann mich nicht an einen ehrlichen Machtwechsel in Russland erinnern. Geld und Korruption entscheiden alles, und auch alle Nawalnys werden daran nichts ändern.“

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