Es gibt in Russland eine merkwürdige Theorie, wonach die bekannteste Person des Landes nicht existiert. Es gebe gar keinen Wladimir Putin. Manche sind überzeugt, dass der russische Präsident schon lange tot ist. Die Anfrage „Putin Doppelgänger“ ergibt in der russischen Google-Suche mehr als 100.000 Treffer, auch wurde der Kremlchef auf Presseterminen danach gefragt.
Vor Jahren kursierten Berichte über eine schwere Krankheit des fitten Kampfsportlers, der sich mit nacktem Oberkörper beim Jagen in Sibirien ablichten ließ. Wurde er danach ausgetauscht? 2005 sagte Putin im Fernsehen: „Ich will nicht ewig im Kreml sitzen, so dass drei TV-Kanäle ständig die gleiche Visage zeigen.“ Vielleicht, so eine Erklärung, hatte der allgegenwärtige Autokrat keine Lust mehr und bürdete heimlich die Last des Regierens einem Ersatzmann auf.
Das „System“ oder „die Macht“ – so nennen die Russen ihren intransparenten und korrumpierten Staat – sei eben zu allem fähig, um sich selbst zu erhalten. Auch zu einem Schwindel an der Spitze. Die Idee ist absurd und symptomatisch für die russische Demokratie: Viele Menschen haben das Gefühl, deren Säulenfigur gut zu kennen und verlassen sich blind auf sie. Dabei bleibt der Alleinherrscher im Kreml zugleich ein Mysterium. Manche halten ihn für übermächtig, andere finden ihn unheimlich. Putin scheint sich nach 20 Jahren an der Macht ein Stück weit entpersonalisiert zu haben.
Der britische Historiker Marc Galeotti vergleicht ihn mit einem „Farbklecks, in den jeder seinen Argwohn und seine Ängste hineinprojiziert, um eine eigene Putin-Version zu bekommen“. Unbegreiflich ist Russlands Präsident gerade auch für den Westen. Fest steht, dass er durch einen Truppenaufmarsch unweit der ukrainischen Grenze die Europäer nervös gemacht hat. Wird es einen Angriff geben? Wie weit könnte der 69-Jährige gehen? Die Fragen geben den Analysten und Militärs keine Ruhe.
Eingeschränkter Informationsfluss im Kreml
Man weiß wenig darüber, was sich hinter den Kremlmauern abspielt. Insider hatten von Putins (Selbst)Isolation in seinem Machtzirkel berichtet. Angeblich liefern einige auserwählte Mitarbeiter dem Staatschef nur die Informationen, die ihm passen und gefallen würden. Wäre es so, dürfte Russlands Kurs einen irrationalen Kern haben und potenziell gefährlich sein.
Sehr wahrscheinlich ist es aber nicht: Es deutet einiges darauf hin, dass Putin die geopolitischen Spielregeln beherrscht und mit der provozierten Krise an der Türschwelle zur EU konkrete Ziele erreichen will.
Die meisten Experten erwarten bis Mitte Februar eine Bewegung beim Kräftemessen in der russisch-ukrainischen Grenzregion. Ein offener russischer Angriff auf den rivalisierenden „Bruderstaat“ erscheint aus einer Vielzahl von Gründen unwahrscheinlich. Um einige zu nennen: Russlands imposante Streitmacht könnte in die Ukraine eindringen, aber nicht das ganze Land dauerhaft besetzen. Die ukrainische Armee ist besser ausgestattet als 2014 und kampferfahren genug, um eine effizientere Gegenwehr zu leisten als im Bürgerkrieg nach der russischen Annexion der Krim.
Neuer Krieg wäre für Putin kontraproduktiv
Zudem würde ein blutiger Guerillakrieg gegen die Besatzer beginnen. Die allermeisten Russen wollen gar keinen Krieg, und die unvermeidlichen militärischen Verluste würden einen starken Druck auf deren Staatsführung erzeugen. Auch wirtschaftlich kann sich Moskau keinen teuren Konflikt leisten. Putins Prestige-Gasprojekt Nord Stream 2 wäre am Ende.
Ein neuer Krieg wäre für Putin auch deswegen kontraproduktiv, weil er ein erstes wichtiges Ziel erreicht hat. Mit seiner Drohkulisse hat Russland den USA Verhandlungen über eine neue Sicherheitsarchitektur in Europa aufgezwungen, und es ist möglich, dass der Kremlchef am Ende nicht mit leeren Händen dastehen wird. Es wäre ein Triumph, auf den er seit vielen Jahren hinarbeitet.
Der Zerfall der Sowjetunion war die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts.Wladimir Putin, russischer Präsident
Der Zerfall der Sowjetunion war aus Putins Sicht die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Besonders in den älteren Generationen lebt seitdem ein Groll, genährt auch von unterdrückten nationalen Minderwertigkeitsgefühlen. Das unabhängige Russland war in den 1990er Chaosjahren zu schwach und instabil, um auf Augenhöhe mit den USA zu agieren. Ein Teil von Putins Mission seit 2000 ist es, dieses Trauma zu heilen und dem Land zu seiner früheren Größe zu verhelfen.
Der Aufstieg des einst in Dresden stationierten Geheimdienstlers an die Spitze des Staates ist genauso undurchschaubar wie sein heutiges „System“. Das neue Buch „Putins Netz“ der Reuters-Journalistin Catherine Belton, das Anfang Februar erscheint, zeichnet ein Bild von einem mafiösen Geflecht aus korrupten KGB-Kadern, die faktisch die Kontrolle über das größte Land der Welt übernehmen.
Putin schuf eine russische Quasi-Demokratie
In seinen ersten Amtszeiten zügelte Putin mit Härte die russische Anarchie und transformierte die „Macht“ in eine straff gelenkte Quasi-Demokratie ohne echte Gewaltenteilung und Opposition. Dabei hielt sich der Präsident an einen Grundsatz, den gerade wieder auch die Europäer erleben: „Respektiert wird, wer gefürchtet wird.“
Diese Überzeugung wurzelt wohl in Putins Biografie, der aus einer Stadt kommt, die wie keine andere im Zweiten Weltkrieg gelitten hat: St. Petersburg, das frühere Leningrad.
Seine Mutter war am Ende der 900-tägigen Belagerung durch die Wehrmacht halb verhungert, sein Vater kehrte aus dem Krieg als Krüppel zurück. Der junge Putin hat früh gelernt, ein Kämpfer zu sein. Ein Schwarzgürtel-Judoka, später ein Spion, skrupelloser Politstratege und gewiefter Netzwerker mit vielen Gesichtern. Je nach Publikum kann er brutal wirken oder ganz charmant erscheinen, wie es auch die westlichen Moskau-Korrespondenten bei Gesprächen im kleinen Kreis im Kreml erleben konnten.
Altes Zarenkonzept ist wieder populär
Der starke Mann in Moskau wird von der neoimperialen Idee angetrieben, eine Schutzmacht für „alles Russische“ in der Welt aufzubauen. Sie geht auf ein gut 600 Jahre altes, nationalistisches Konzept aus der Zarenzeit zurück und bezieht heute auch die Nachbarn Belarus und Ukraine mit ein, in denen es viele russischsprachige Bürger gibt.
Getreu der Tradition des Kalten Krieges sieht der Kremlchef die Welt in „Einflusszonen“ aufgeteilt. Russland beansprucht die politische Dominanz im Westen und Süden der Ex-Sowjetunion und will, dass die USA sich dort heraushalten. Die dritte und vierte Amtszeiten Putins dienen vorrangig dem Ziel, seinen Einfluss auszudehnen und dem Land wieder Respekt zu verschaffen.
Der Präsident bemüht gerne die Mär von den (tatsächlich nie gegebenen) Nato-Versprechen der Nichterweiterung gen Osten und fordert im Konflikt um die Ukraine Sicherheitsgarantien, die deren Souveränität einschränken würden. Dabei dient Russlands aggressive Außenpolitik auch der internen Konsolidierung, nach dem Motto: Nichts eint das Volk so wie ein äußerer Feind.
Im vergangenen Jahrzehnt sah sich Putin wiederholt in der Annahme bestätigt, dass eine Demütigung des Westens durch militärische Operationen im Ausland, ob in Syrien oder in der Ukraine, die ausbleibenden innenpolitische Erfolge mehr als aufwiegen kann.
Putins Platz in Geschichtsbüchern
Der Kremlchef hat sich die Möglichkeit geschaffen, bei der Wahl 2024 ein fünftes Mal anzutreten. Jetzt geht es um seinen Platz in den Geschichtsbüchern. Geht der Truppen-Bluff in Osteuropa auf, und die USA lassen sich zu Sicherheitsgarantien für Russland erpressen, könnte dieser Erfolg das Erbe von Putins Präsidentschaft zementieren und ihm genügend Unterstützung für eine Wiederwahl sichern.