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Wechsel der Kriegsstrategie

Putins Schlachtruf: Das bedeutet Russlands Teilmobilisierung

Russlands militärische Erfolge in der Ukraine sind rar geworden, Präsident Putin musste einige Rückschläge hinnehmen. Nun wechselt der Oberbefehlshaber in Moskau seine Kriegsstrategie und geht ein hohes Risiko ein.

Ein Krieg ohne große Erfolge: Eine erfolgreiche ukrainische Gegenoffensive zwang Russlands Truppen dazu, sich aus der Charkiw-Region zurückzuziehen und ihre Militärtechnik teils zurückzulassen. Durch eine angeordnete Einberufung von Reservisten hofft Präsident Wladimir Putin nun darauf, den Kriegsverlauf zu seinen Gunsten zu wenden.
Eine erfolgreiche ukrainische Gegenoffensive zwang Russlands Truppen dazu, sich aus der Charkiw-Region zurückzuziehen und ihre Militärtechnik teils zurückzulassen. Foto: Juan Barreto / AFP

Gestärkt durch westliche Waffenlieferungen und die geheimdienstliche Unterstützung aus den USA und Europa, hat die Ukraine mit ihrer Strategie der regionalen Offensiven im Süden und besonders im Osten des Landes zuletzt beachtliche militärische Erfolge erzielt.

Der russische Angriffskrieg stockt. Wenn auch die Machtstellung des Präsidenten Wladimir Putin weiterhin stark bleibt, sind seine politischen Ziele bei der angestrebten „Entnazifizierung“ des Nachbarlandes momentan unerreichbar.

Lange hat der autoritäre Kremlchef diesen Schritt hinausgezögert, nun hat er jedoch eine Teilmobilisierung von Reservisten angeordnet. Redakteur Alexei Makartsev – selbst ein früherer Reservist der russischen Armee – erklärt, was das bedeutet und welche Risiken Putin damit eingeht.

Was genau hat Russlands Präsident Wladimir Putin befohlen?

Ab sofort werden in Russland Reservisten in den Militärdienst eingezogen, die als Berufssoldaten gelten und entsprechend bezahlt werden sollen. Gleichzeitig werden die bereits laufenden Zeitverträge von Berufssoldaten bis zum Ende der Teilmobilisierung verlängert, sie dürfen also nur aus gesundheitlichen Gründen oder bei Erreichen eines bestimmten Alters beendet werden.

Beschäftigte von Rüstungsbetrieben sind von der Teilmobilisierung ausgenommen. Interessanterweise wird die „spezielle militärische Operation“, wie der Krieg in Russland offiziell bezeichnet wird, nirgendwo in Putins Erlass erwähnt.

Wer wird eingezogen und mit wie vielen zusätzlichen Soldaten kann Putin rechnen?

Laut Gesetz zählen in Russland Männer im Alter bis 50 Jahren zu Reservisten, wenn sie zuvor den Wehrdienst als einfache Soldaten beendet haben. Für Offiziere gilt eine Altersgrenze von 60 Jahren (niedere Ränge), 65 Jahren (mittlere Ränge) und 70 Jahre (höhere Ränge). Bei den Soldaten gibt es wiederum drei Altersgruppen, die je nach Notwendigkeit eingezogen werden können.

Putins Marschbefehl gilt jetzt offenbar für die erste Gruppe (bis 35 Jahre), jüngere Offiziere und einen Teil der Reservisten mit bestimmten, nicht näher ausgeführten Erfahrungen und Fertigkeiten, die der Kreml als nützlich in dem Krieg erachtet. Verteidigungsminister Sergej Schojgu rechnet damit, seine Truppenstärke so zeitweise um rund 300.000 Mann steigern zu können.

Wie wird diese Maßnahme offiziell begründet?

Nach der Lesart des Kreml befindet sich das Land in einem Kampf nicht nur mit der Ukraine, sondern mit „diesem ganzen Westen, der Russland schwächen, spalten und am Ende vernichten will“. Putin wirft den USA und ihren Verbündeten vor, „internationale Terrorbanden im Kaukaus“ gegen Russland aufgebaut, die Nato-Kräfte bis an seine Grenzen vorgerückt und „über Jahrzehnte gezielt Hass auf Russland entfacht“ zu haben.

Die Ukraine ist in Putins Augen nichts Anderes als ein „Aufmarschgebiet“ gegen sein Land, die Ukrainer sieht er als „Kanonenfutter“ in diesem Kampf. Die Teilmobilisierung wird indirekt begründet mit der Notwendigkeit, Russlands Einheit und Souveränität verteidigen zu müssen.

Gab es schon einmal eine Mobilisierung in Russland?

Nein. Dies ist eine extreme Maßnahme, die Putin aus gutem Grund lange gescheut hat. Der Wehr- und Militärdienst ist in seinem Land extrem unbeliebt. Selbst in Friedenszeiten sind die russischen Streitkräfte berüchtigt für Willkür, Brutalität und Misshandlungen von Wehrpflichtigen. Es gibt immer wieder Suizide von jungen Soldaten.

Die Mobilisierung wird nun viele Tausend Russen aus ihrem Berufs- und Familienleben herausreißen und in der Gesellschaft für großen Unmut sorgen. Um den negativen Effekt zu mindern, wurde bekanntgegeben, dass Studenten nicht betroffen sind, die Wehrpflichtigen an den Kampfhandlungen in der Ukraine nicht teilnehmen sollen und insgesamt nur etwa ein Prozent aller infrage kommenden Reservisten mobilisiert wird.

Wird die Teilmobilisierung Russlands Armee schlagkräftiger machen?

Das ist zu bezweifeln. Die Reservisten dürften in der Regel völlig unvorbereitet und nicht kampffähig sein. Laut Gesetz kann jeder Russe in Reserve alle drei Jahre zu militärischen Übungen eingezogen werden, die maximal zwei Monate dauern können.

In der Praxis betraf es aber nur relativ wenige Männer im wehrfähigen Alter, und man konnte die ungeliebte Pflicht auch „schwänzen“, wenn man über gute Kontakte in Behörden verfügt oder an der richtigen Stelle einen Briefumschlag mit Geldscheinen überreicht hat. Die jetzt mobilisierten Reservisten sollen „extra trainiert“ werden, aber es ist völlig unklar, wie.

Eine gründliche, gleichzeitige Ausbildung von einer derart großen Zahl von Rekruten für Kampfhandlungen dürfte für Russlands Militärmaschinerie zu einer Herausforderung werden. Hinzu kommt, dass viele Reservisten für den militärischen Drill nicht fit genug sind und gar kein Interesse daran haben, in den Krieg zu ziehen.

Was droht den Kriegsverweigeren und Deserteuren?

Die entsprechenden Strafen wurden gerade verschärft. Wer sich dem Feind „freiwillig ergibt“, muss mit einer Lagerhaft zwischen drei und zehn Jahren rechnen. Deserteure sollen mit fünf bis 15 Jahren Haft bestraft werden – bislang war dafür eine Haftstrafe von sieben Jahren vorgesehen. Wer dabei überführt wird, mithilfe von gefälschten Dokumenten oder durch Vortäuschen einer Krankheit der Einberufung entgehen zu wollen, wird mindestens fünf Jahre im Gefängnis verbringen müssen.

Könnte Putins Schachzug dennoch den Verlauf des Ukraine-Kriegs verändern?

Das ist zurzeit schwierig vorherzusagen. Natürlich wird dadurch der ukrainische Verteidigungskrieg erschwert. Aber es kommt eben darauf an, wie schlagkräftig die neuen Einheiten sein werden, welche Aufgaben sie bekommen und wo sie eingesetzt werden.

Möglicherweise sollen die Reservisten an den Fronten dazu genutzt werden, den Druck von den regulären Einheiten zu nehmen und den abgekämpften Berufssoldaten eine Erholungspause zu verschaffen. Das könnte Putin in einigen Monaten Vorteile verschaffen. Allerdings hat diese Strategie Risiken.

Was kann alles schiefgehen?

Ein Massensterben von schlecht vorbereiteten und unmotivierten Reservisten auf den Schlachtfeldern hätte einen verheerenden Effekt auf die Öffentlichkeit in Russland. Es ist vorstellbar, dass ein Teil der Reservisten Fahnenflucht begeht oder sich den ukrainischen Streitkräften anschließt. Im Krieg kommt es außerdem oft weniger auf die Zahl der Soldaten an, sondern auf gute Aufklärung, effiziente Kommunikation, eine leistungsfähige Logistik und moderne Technik.

Putins Marschbefehl wird in diesen vier Bereichen nichts verändern. Schließlich darf man nicht vergessen, dass die ukrainischen Truppen weiterhin hoch motiviert sind, weil sie für die Freiheit ihres Landes kämpfen. Außerdem hat die Ukraine rein zahlenmäßig eine der stärksten Armeen Europas und könnte bei Bedarf selbst bis zu 900.000 Reservisten mobilisieren.

Was ist von Putins erneuten nuklearen Drohungen zu halten?

Sie sind recht abstrakt und wenig glaubwürdig. Russlands Präsident sagte wörtlich, dass sich die „Windrose“ gegen diejenigen richten könnte, die mit Atomwaffen sein Land unter Druck setzen würden. Bereits im Februar hatte der Kremlchef eine „erhöhte Alarmbereitschaft“ der nuklearen Streitkräfte angeordnet.

Ein Szenario, in dem Russland durch den Einsatz von Atomwaffen versuchen würde, den Krieg zu gewinnen, ist weiterhin schwer vorstellbar: Ein solcher Schlag brächte keine militärischen Vorteile, würde die Kriegsführung enorm erschweren – und schließlich könnte die radioaktive „Windrose“ auch zu einer tödlichen Bedrohung für russische Einheiten und die eroberten Gebiete werden. Außerdem müsste Russland einen Bruch mit China befürchten, das gezwungen wäre, Putins Tabubruch zu verurteilen.

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