Warum lehnen bestimmte Milieus staatliche Institutionen ab? Was muss man aus den Krawallen von Stuttgart und Frankfurt lernen? Der Präsident des Städtetags Baden-Württemberg und Mannheimer Oberbürgermeister Peter Kurz wünscht sich eine Debatte mit mehr Tiefgang und weniger spaltenden Tweets. „Natürlich haben wir Probleme in den staatlichen Institutionen“, sagt der SPD-Politiker im Interview.
Herr Kurz, haben Sie die Krawalle, erst in Stuttgart,dann in Frankfurt, überrascht?
KurzIn der Vehemenz ja. Da hat Corona offenbar als Beschleuniger von Tendenzen gewirkt, die wir in unseren Städten schon lange erleben.
Was meinen Sie konkret?
KurzIn bestimmten Milieus wächst die Bereitschaft zu Beleidigungen oder Angriffen und zur Solidarisierung gegen staatliche Institutionen, das trifft ja nicht nur die Polizei.
Was ist die Antwort?
KurzNatürlich sind Sanktionen Teil der Antwort, aber das darf uns nicht genügen. Die Frage ist doch: Wie kommt es überhaupt zu so einer Haltung? Warum lehnen bestimmte Milieus staatliche Institutionen ab?
Woran liegt es?
KurzIn bestimmten sozialen Milieus, in denen Migranten aus sozio-ökonomischen Gründen überrepräsentiert sind, ist die Wahrnehmung gestiegen, dass staatliche Institutionen diskriminierend und nicht unterstützend wirken. Das hat die Politik generell unterschätzt. Es fühlen sich Menschen ausgegrenzt und grenzen sich dann auch selbst aus und ab - durch Inszenierungen und Haltungen. Damit müssen wir uns auseinandersetzen, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Das Beispiel USA zeigt: Wenn man das einfach laufen lässt, werden die gesellschaftlichen Gräben immer tiefer.
Sie sprechen von Rassismus?
KurzDer Begriff bringt uns im deutschen Zusammenhang nicht wirklich weiter, zumal dann drei Viertel der Leute denken,das Problem hat nichts mir zu tun, und abschalten. Aber wir müssen uns fragen:Welche Botschaften führen dazu, dass sich eine wachsende Gruppe ausgegrenzt fühlt? Wir müssen uns auch ehrlich machen: Natürlich haben wir Probleme in den staatlichen Institutionen.
Wie sehen die aus?
KurzNehmen wir die Schulen in Mannheim: Dort sind die Lehrerzimmer mit hoher Wahrscheinlichkeit der einzige Raum, in dem in der Regel Menschen mit einer Migrationserfahrung nicht präsent sind. In jedem anderen Raum der Mannheimer Schulen haben wir eine Mehrheit mit migrantischem Hintergrund.
Wir brauchen mehr Migranten in Führungspositionen?
KurzJa. Ich war vor 20 Jahren zu Besuch an einer kanadischen Schule, der Rektor war hörbar italienischer Abstammung. Da habe ich mir gedacht: In Deutschland wäre er nie Rektor geworden. Für die Kinder mit ihren unterschiedlichen Herkünften an der kanadischen Schule aber war klar: Ich kann hier Rektor werden, er redet auch kein perfektes Englisch, aber er strengt sich an. Bei uns ist so etwas bis heute undenkbar. Da müssen wir uns aber auch nicht wundern, wenn Jugendliche sagen: Das sind nicht meine Institutionen, die sind nicht für mich da, für die bin ich fremd. Die Frage ist, wie wir hier die Kurve kriegen.
Ihre OB-Kollegen in Tübingen, Schwäbisch Gmünd und Schorndorfschlagen unter anderem die Einführung eines sozialen Pflichtjahrs vor.
KurzWir haben einen wachsenden Mangel an milieu-übergreifenden Begegnungen. Das fördert die Spaltung der Gesellschaft.Das müssen wir durchbrechen. Ein soziales Pflichtjahr kann ein Instrument sein,um Menschen unterschiedlicher Milieus wieder stärker zusammenzubringen. Solche Debatten müssen wir dringend führen.
Passiert das nicht seit der Stuttgarter Krawallnacht?
KurzStuttgart kann da eine Chance sein. Die versieben wir aber, wenn die Debatte so läuft, wie wie das in diesen Fragen seit Jahren kennen - mit spaltenden Tweets, mit Zuspitzungen und einfachen Wahrheiten. Ich wünsche mir mehr Differenzierung, mehr Tiefgang, mehr Ehrlichkeit – auch von den Medien.