Skip to main content

Unkalkulierbares Risiko

Ukrainischer Atommeiler unter Beschuss: Welche Folgen hätte ein GAU in Saporischja?

Das ukrainische AKW Saporischja ist zur Zielscheibe im Krieg geworden. Experten der Internationalen Atomenergie-Organisation sind besorgt. Simulationen zeigen vor allem ein erhöhtes Risiko für Russland im Fall eines GAU.

Ein unkalkulierbares Risiko: Knapp 2.000 Kilometer entfernt von Karlsruhe befindet sich ein großes Kernkraftwerk nahe der Frontlinie im Stellungskrieg zwischen Russland und der Ukraine. In den vergangenen Monaten haben Inspektoren der IAEA die Anlage in Saporischja mehrfach besucht, mit ihren Warnungen haben sie bislang wenig erreicht.
Knapp 2.000 Kilometer entfernt von Karlsruhe befindet sich ein großes Kernkraftwerk nahe der Frontlinie im Stellungskrieg zwischen Russland und der Ukraine. Foto: Victor /dpa/XinHua

Europas größtes Kernkraftwerk im ukrainischen Saporischja ist am Wochenende erneut beschossen geworden. In der Nähe und auf dem Gelände der Anlage gab es mehrere starke Explosionen.

Die Internationale Organisation für Atomenergie (IAEA) sieht einen „großen Anlass zur Sorge“, dass durch die „schiere Intensität der Angriffe“ die sechs Reaktorblöcke beschädigt werden könnten.

Russland kontrolliert das größte Atomkraftwerk Europas faktisch seit Anfang März. Welche Folgen hätte ein GAU in Saporischja für die Ukraine, aber auch für Russland und Europa? Und wie schätzen die deutschen Behörden derzeit die Gefahr ein?

Die BNN beantworten die wichtigsten Fragen zum Thema.

Wie ist heute die Lage am Atomkraftwerk Saporischja?

Sie ist angespannt. Durch den Beschuss am vergangenen Samstag und Sonntag wurden laut der Internationalen Atomenergie-Organisation die Kondensatbehälter beschädigt, was zu einem nicht radioaktiven Leck geführt hat. Weitere Schäden gab es an einer Druckluftleitung und einem „speziellen Nebengebäude“.

Die sechs Reaktoreinheiten seien aber stabil. Auch der abgebrannte und frische Brennstoff sowie der nukleare Abfall in den Lagern ist demnach unversehrt. IAEA-Chef Rafael Grossi sieht somit keine Beeinträchtigung der nuklearen Sicherheit. Dennoch schrieb er auf Twitter: „Wer auch immer dahintersteckt: Es muss aufhören. Ihr spielt mit dem Feuer!“

Wer steckt hinter den Angriffen auf den Atommeiler?

Das ist nicht klar. Russland und Ukraine machen sich gegenseitig dafür verantwortlich. Nach Angaben des ukrainischen AKW-Betreibers Energoatom gab es am Sonntag zwölf „russische Treffer“ auf dem Kraftwerksgelände. Demnach würden russische Militärs gezielt die Infrastruktur der Atomanlage zerstören, um zu verhindern, dass sie in den für die Winterzeit erforderlichen „minimalen Leistungsbetrieb“ hochgefahren werden kann. Dagegen wirft Moskau den ukrainischen Streitkräften das Herbeiführen einer nuklearen Katastrophe vor.

Nach russischen Angaben hat der Gegner am Wochenende aus der Stadt Marganez auf der anderen Seite des Flusses Dnjepr mindestens 23 Geschosse auf das Kraftwerk abgefeuert. Russland kontrolliert das Kraftwerk seit Ende März. Angeblich errichten seine Militärs zurzeit spezielle Konstruktionen auf dem Gelände, um das Lager mit nuklearen Abfällen vor direkten Treffern zu schützen.

Welche Reaktionen gab es nach den Angriffen vom Wochenende?

Rafael Grossi spricht von einem Skandal, wenn „ein Atomkraftwerk als legitimes militärisches Ziel betrachtet“ werde. „Dieser Wahnsinn muss enden“, sagte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne). „Nie hätten wir uns vorstellen können, dass ein Land unverantwortlich genug sein könnte, ein Kernkraftwerk zum Faustpfand im Krieg zu machen.“

Laut einem Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen dürfen Atommeiler nicht angegriffen werden, wenn der Angriff „gefährliche Kräfte freisetzen und dadurch schwere Verluste unter der Zivilbevölkerung verursachen kann“. Darunter fällt auch eine Situation, wenn durch die Kämpfe der Normalbetrieb der AKW behindert wäre oder die Sicherheitsmechanismen durch einen längeren Stromausfall blockiert würden.

Ist ein GAU in Saporischja infolge von Beschuss möglich?

Aus russischer Sicht ja. Die Atomenergiebehörde Rosatom warnte am Montag vor einer möglichen Katastrophe, die „die Geschichte Europas für immer verändern würde“. Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ist alarmiert: Er warf Russland vor, in Saporischja einen Atomunfall herbeiführen zu wollen, der „schlimmer als Tschernobyl“ wäre und einem Atomwaffeneinsatz gleichkäme. Westliche Experten sind ebenfalls besorgt.

Nach ihrer Einschätzung sind die Reaktoren des AKW Saporischja gut geschützt, allerdings wurde der Schutz nicht für den Fall eines Krieges konzipiert. Ein weiteres Problem seien die durch den Krieg bedingten Stromausfälle, die die Kühlung der Brennstäbe verhindern und zu einer Kernschmelze führen könnten.

Angenommen, es käme zu einer Atomkatastrophe: Welche Gebiete wären am meisten betroffen?

Offensichtlich ist die Ukraine am meisten gefährdet. Allerdings ist Saporischja nur etwa 200 Kilometer von der russischen Grenze entfernt, und die freigesetzten radioaktiven Stoffe könnten durchaus die Millionenstadt Rostow-am-Don im Süden des Landes treffen. Denn es kommt auch auf die Luftströmungen an. Auf seiner Webseite „kachelmannwetter“ bietet der Meteorologe Jörg Kachelmann eine ständig aktualisierte Simulation der möglichen Verteilung der Schadstoffe in der Atmosphäre an.

Am Mittwoch zeigte das Modell eine extreme Gefährdung für Rostow-am-Don
im Fall eines GAU. Demnach könnten die Schadstoffe in den höheren Schichten der Atmosphäre nach einigen Tagen auch weiter entfernte Gebiete in Nordrussland erreichen. Es gibt auch eine Prognose des russischen Verteidigungsministeriums: Die Karte zeigt eine radioaktive Wolke, die sich über dem gesamten Westen der Ukraine ausbreitet und Teile von Polen und Deutschland erreicht.

Wie wird die Gefahr für Deutschland eingeschätzt?

Sie ist moderat. Das Bundesamt für Strahlenschutz hat in der Vergangenheit untersucht, wie sich die radioaktiven Stoffe nach Unfällen in ukrainischen Kernkraftwerken verbreiten würden. Laut dem BfS bewegten sich über ein Jahr hinweg an etwa 60 Tagen die Luftmassen nach Deutschland, das seien 17 Prozent der Wetterlagen.

„Nur bei einem erheblichen Austritt von Radioaktivität und einer Wetterlage, die Luftmassen von der Ukraine nach Deutschland verfrachtet, könnten die für die Landwirtschaft festgelegten Radioaktivitäts-Höchstwerte überschritten werden“, schreibt das Amt in einer aktuellen Einschätzung.
Wenn der Radioaktivitätspegel an einer der über 1.700 automatischen Messstellen einen Schwellenwert überschreitet, werde ein Alarm ausgelöst. Auch die Spurenmessstelle auf dem Schauinsland bei Freiburg werde regelmäßig überwacht.

nach oben Zurück zum Seitenanfang