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Boykott von Tierschützern?

Wie Tierversuche genehmigt werden: Ein umstrittener Prozess hinter verschlossenen Türen

Geheime Kommissionen beraten bei der Genehmigung von Tierversuchen mit. Tierschützer kritisieren, dass sie hierbei kaum etwas bewirken können. Andere werfen ihnen vor, das System zu boykottieren. Was die Betroffenen und das Regierungspräsidium Karlsruhe dazu sagen.

So sieht der Antrag auf Genehmigung eines Tierversuchs aus.
So sieht der Antrag auf Genehmigung eines Tierversuchs aus. Foto: pr

Irgendwo im Raum Karlsruhe gibt es 27 Menschen, die bei der Genehmigung von Tierversuchen mitberaten. Sie sind Wissenschaftler, Tierärzte und Tierschützer – doch wer sie wirklich sind, darf niemand erfahren. „Die dürfen auch nichts erzählen, sie sind zu strikter Vertraulichkeit verpflichtet“, sagt Norbert Alzmann.

Er selbst darf auch nichts erzählen, nicht aus seiner eigenen Tätigkeit in einer baden-württembergischen Tierversuchskommission jedenfalls. Doch der Biologe und Ethiker tauscht sich auf Tagungen und internationalen Kongressen regelmäßig mit Wissenschaftlern aus, die ebenso zum Genehmigungsprozess von Tierversuchen forschen. Dadurch bekommt er einen Gesamteindruck vom Genehmigungsverfahren für Tierversuche in Deutschland. Und das findet er aus vielen Gründen „absolut unbefriedigend.“

Die Rechtslage sieht so aus: Tierversuche, die nicht gesetzlich vorgeschrieben sind, müssen in Deutschland genehmigt werden. In Baden-Württemberg sind dafür die Regierungspräsidien zuständig. Der Wissenschaftler stellt einen Antrag, in dem er ausführt, warum der Versuch unerlässlich ist. Außerdem muss er darlegen, dass die „zu erwartenden Schmerzen, Leiden oder Schäden der Tiere im Hinblick auf den Versuchszweck ethisch vertretbar sind“.

Keinerlei Transparenz bei Besetzung und Arbeitsweise der Kommissionen

Bei der Entscheidung über Genehmigung oder Ablehnung des Antrags wird das Regierungspräsidium von einer ehrenamtlichen Tierversuchskommission beraten. In Karlsruhe wechseln sich aufgrund der Fülle an Anträgen zwei Kommissionen ab. Darin sitzen jeweils vier Wissenschaftler und zwei Personen, die von Tierschutzorganisationen vorgeschlagen werden. Hinzu kommen 15 Stellvertreter.

Diese 27 Personen sind laut Alzmann ein „wichtiger Dreh- und Angelpunkt im Genehmigungsverfahren“, weil sie die Behörde mit zwingend notwendigen Fachkenntnissen unterstützen. Doch wie die Mitglieder zu ihren Posten kommen, wer sie sind, wie sie ihre Entscheidungen treffen – und welche –, das erfahren die Bürger nicht.

Tierschutzorganisationen dementieren Beteiligung

„Die Namen der Kommissionsmitglieder werden von uns als vertraulich eingestuft“, schreibt das Regierungspräsidium Karlsruhe. Auch eine Anfrage unserer Redaktion nach dem Informationsfreiheitsgesetz ändert daran nichts. Lediglich die Namen von drei Tierschutzorganisationen gibt das Regierungspräsidium heraus, die angeblich Vorschläge bei der Besetzung machen können.

Zwei dieser Organisationen dementieren das auf BNN-Anfrage jedoch: Weder würden sie momentan Vertreter entsenden, noch seien sie an der Bildung der Kommissionen beteiligt.

Bleibt also nur eine einzige Organisation, die „Tierärztliche Vereinigung für Tierschutz“ (TVT). Die TVT wird von anderen Tierschützern immer wieder kritisiert, weil sie zwar als Tierschutzorganisation gilt, aber nicht generell gegen Tierversuche ist. „Das sind Wissenschaftler, die nicht im Hinterkopf haben, die Methode des Tierversuchs abzuschaffen“, sagt ein Kommissionsmitglied aus Süddeutschland. Auch der Tübinger Bioethiker Norbert Alzmann bestätigt: „Deren Mitglieder sind nicht zwingend das, was der Bürger als NGO-Tierschützer versteht.“

Manche Tierschützer wollen die Bedingungen verbessern – nicht aber die Methode abschaffen

TVT-Mitglied und Fachtierarzt Oliver Strauch sieht das anders. Er bekam im Studium Lymphdrüsenkrebs und schrieb daher seine Doktorarbeit in der Onkologie, wo er auch den ersten eigenen Tierversuch durchführte. Schnell wurde er an der Uni zum Experten für das Genehmigungsverfahren und unterstützte seine Kollegen dabei, Anträge zu verfassen.

Sein Anliegen: Durch die Anwendung der 3R-Methode („Replace, Reduce, Refine“) Tierversuche soweit möglich durch andere Verfahren zu ersetzen, die Zahl der verwendeten Tiere zu verringern und den Versuchsaufbau so zu verbessern, dass unerlässliches Leid so gering wie möglich gehalten wird.

„Weil ich selbst erkrankt war, setze ich mich schon lange mit Tierversuchen auseinander. Ich bin der Meinung, dass es ethisch nicht verantwortbar ist, auf Tierversuche zu verzichten“, sagt der Tierarzt. Vielmehr müsse man sie reduzieren und Alternativmethoden fördern. „Um die Wissenschaftler dabei zu unterstützen, bin ich in die Tierversuchskommission eingetreten“, sagt Strauch, der zehn Jahre lang in der Freiburger Kommission saß.

Viele Stunden ehrenamtliche Vorbereitungszeit vor den Sitzungen

Strauch wehrt sich gegen das Image von unmoralischen Forschern, die aus Bequemlichkeit und Neugier unnötige Tierversuche durchführen würden. „Kein Wissenschaftler hat ein Interesse daran, ans Tier zu gehen, denn Tierversuche sind teuer, aufwendig und brauchen unglaublich viel Zeit.“ Für manche Fragestellungen seien alternative Methoden, etwa auf Organ-Chips im Labor, aber einfach nicht ausreichend. „In der Regel ist alles, was in vitro gemacht werden kann, schon gemacht worden.“

Als Mitglied der Freiburger Tierversuchskommission bekam Strauch jeden Monat 15 bis 20 Anträge mit jeweils ebenso vielen Seiten, die er in seiner Freizeit durchlesen musste. Zwei Wochen Zeit hatte er dafür, pro Antrag habe er meistens eine Stunde gebraucht. Wegen des hohen Arbeitsaufwandes sei es schwierig, überhaupt noch Mitglieder für die Kommissionen zu finden. Und es gebe noch ein viel größeres Problem: „Die Tierschutzorganisationen boykottieren das System und entsenden keine Leute mehr“, sagt Strauch.

Boykottieren Tierschutzorganisationen das Verfahren?

Tatsächlich kann die Karlsruher Kommission nicht die einzige sein, in der die Tierschutzseite ausschließlich mit TVT-Vorschlägen besetzt wird. Die meisten größeren Tierschutzorganisationen, allen voran Peta und der Deutsche Tierschutzbund, bestätigen auf BNN-Anfrage, dass sie spätestens seit 2014 deutschlandweit nicht mehr am Genehmigungsverfahren beteiligt sind. „Und zwar relativ bewusst,“ sagt Peta-Sprecherin Anne Meinert. „Denn die Tierversuchskommission ist nur beratend tätig, sie hat aber keine Weisungsbefugnis.“ Die abschließende Entscheidung über Genehmigung oder Ablehnung treffe immer die Behörde.

„Außerdem wird der überwiegende Teil der Anträge einfach durchgewunken, weil die Kommission nur eine Plausibilitätsprüfung machen kann“, so Meinert. So reiche es bereits aus, wenn der Wissenschaftler im Antrag die Punkte „Unerlässlichkeit“ und „ethische Vertretbarkeit“ korrekt ausfüllt – eine inhaltliche Überprüfung finde nicht statt. „Damit hat die Kommission keine Handhabe, um einzuschreiten, wenn etwas ethisch nicht korrekt ist“, erklärt Meinert.

Rechtslage und Prüfkompetenz der Behörden sind umstritten

Dieser Sichtweise folgt auch Kristina Wagner vom Deutschen Tierschutzbund. Ursache sei ein Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 2014 gewesen: Die Bremer Gesundheitsbehörde war zuvor von einem Forscher verklagt worden, der 2008 keine Genehmigung für Hirnversuche an Affen bekommen hatte. Das Oberverwaltungsgericht hatte geurteilt, dass der Forscher einen Anspruch auf die Genehmigung gehabt hatte – und das Bundesverwaltungsgericht bestätigte dies. Zudem hatte sich mittlerweile der Wortlaut im Tierschutzgesetz geändert.

Zuvor stand dort „Die Genehmigung darf nur erteilt werden, wenn…“. Seit 2013 lautet der entsprechende Paragraf: „Die Genehmigung ist zu erteilen, wenn…“. Gibt es also für die Genehmigungsbehörden und die beratenden Kommissionen überhaupt keinen Entscheidungsspielraum mehr? Das Regierungspräsidium Karlsruhe schreibt auf Nachfrage, es würde eine „qualifizierte Plausibilitätskontrolle“ durchgeführt – ohne auszuführen, was das genau bedeutet.

Gegen Deutschland läuft ein Vertragsverletzungsverfahren der EU

„Ich verstehe den politischen Druck, den diese Tierschutzorganisationen mit ihrem Rückzug aus den Kommissionen machen wollten, weil der Wortlaut im Gesetz wirklich unglücklich ist“, sagt der Bioethiker Norbert Alzmann. „Eine reine Plausibilitätsprüfung reicht nicht aus und wäre außerdem ein Verstoß gegen das EU-Recht.“

Die Europäische Union hatte nämlich 2010 eine Richtlinie zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere erlassen, deren Vorgaben die Mitgliedsstaaten bis 2013 umzusetzen hatten. In dieser Richtlinie wird eine von den Darlegungen des Antragstellers unabhängige, inhaltliche „Schaden-Nutzen-Analyse“ durch die Behörde gefordert. Allerdings läuft gegen Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren, weil der Gesetzgeber diese und andere Anforderungen nicht angemessen erfüllt haben soll.

Tierschutzorganisationen hatten schon vor Jahren davor gewarnt, dass es so weit kommen würde. „Die EU-Kommission ist zu dem Schluss gekommen, dass Deutschland die Richtlinie in fast 30 Punkten fehlerhaft umgesetzt hat“, erklärt Kristina Wagner vom Deutschen Tierschutzbund. Das zuständige Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft will keine Details nennen.

Wie wägt man Tierleid und Forschungserkenntnisse ab?

Norbert Alzmann von der Uni Tübingen kennt aber auch unabhängig davon zahlreiche Schwachstellen des deutschen Tierschutzrechts. „Aus Sicht der Ethik fehlt in den Regularien eine umfassende Güterabwägung“, sagt er. Man müsse sich diesen Vorgang vorstellen wie die Betrachtung zweier Waagschalen: In einer lägen insbesondere die Schmerzen, Leiden und Schäden an den Tieren. Es seien aber noch weitere Kriterien relevant wie etwa die Dauer der Experimente, die Anzahl und Komplexität der Tiere, die Haltungsbedingungen sowie die Eignung des Tiermodells.

In die andere Waagschale käme der Erkenntnisgewinn, den der Tierversuch bringen soll, beziehungsweise der erwartete praktische Nutzen und deren Eintrittswahrscheinlichkeit. Neben weiteren Kriterien sollten auch die Übertragbarkeit auf den Menschen sowie die Schwere der Erkrankung und gegebenenfalls die Anzahl der Betroffenen in dieser Waagschale liegen. Sie muss laut Alzmann deutlich überwiegen, damit ein Versuch als ethisch vertretbar gilt und genehmigt werden kann. Ein Gleichgewicht reiche nicht aus.

„Ein Problem ist: Schmerzen, Leiden und Schäden werden de facto auftreten. Beim erwarteten Nutzen wissen wir nicht, ob, wann und in welchem Umfang er eintreten wird“, erklärt Alzmann. Außerdem gebe es für die Genehmigungsbehörden und die beratenden Kommissionen keinerlei rechtliche Vorgaben und keinen verbindlichen Leitfaden, wie die Aspekte zu gewichten und gegeneinander abzuwägen sind.

So hänge es vom individuellen Bauchgefühl der Mitglieder ab, ob und in welcher Weise jemand zum Beispiel auch die Tierart berücksichtigt, weil ihm etwa Affen wichtiger sind als Ratten. Die meisten Kommissionsmitglieder seien Naturwissenschaftler oder (Tier-) Mediziner, hätten aber in der Regel keine spezielle tierethische Ausbildung, sagt Alzmann. Ethische Expertise werde vom Gesetz für die Kommissionsmitglieder auch nicht verlangt.

In Karlsruhe handele es sich vor allem um Tierärzte, Mediziner oder Biologen, die „aufgrund ihrer Arbeit ethisches Fachwissen mitbringen“, so das Regierungspräsidium. Norbert Alzmann verweist jedoch auf ein generelles Problem: „Die Mehrzahl der Naturwissenschaftler weiß leider gar nicht genau, was Ethik ist“. Nur an zwei deutschen Universitäten sei Ethik im Lehrplan der Biologiestudierenden verpflichtend.

In einer Umfrage des Deutschen Tierschutzbundes unter allen Tierversuchskommissionen hatte die Mehrheit der Befragten angegeben, sich einfach auf die eigene Intuition zu verlassen. „Bauchgefühl ist kein ausreichendes Kriterium“, kritisiert Alzmann. „Ethik ist eine Wissenschaft und nicht etwa eine subjektive Einstellung.“

Das Verfahren ist deutschlandweit völlig unterschiedlich

Weil es keine einheitlichen, überregionalen Richtlinien gibt, nach denen die Tierversuchskommissionen arbeiten, ist es theoretisch denkbar, dass ein Antrag in einer bestimmten Behörde genehmigt wird, während er anderswo abgelehnt worden wäre. „Die Kenntnis, wie es in einer einzelnen Kommission vonstatten geht, ist nicht aussagekräftig für die ganze Bundesrepublik“, sagt Alzmann.

In manchen Kommissionen stimmen die Mitglieder ab, in anderen schreiben sie eine Stellungnahme. In manchen dürfen Mitglieder über eigene Anträge oder die von Kollegen entscheiden, in anderen ist dies ausgeschlossen. Seit mehreren Jahren stockt ein Versuch der Genehmigungsbehörden, ein Handbuch herauszubringen. Die Vereinheitlichung scheitert wohl am föderalistischen System, in dem die Länder ihre Hoheiten nicht beschränken wollen.

Auch das Regierungspräsidium Karlsruhe kann nicht ausschließen, dass Wissenschaftler in der Kommission über die Anträge von Kollegen der gleichen Universität oder aus dem gleichen Unternehmen mitentscheiden. Und auch in Karlsruhe wird fast jeder Antrag genehmigt: In den vergangenen Jahren gab es nie mehr als zwei Ablehnungen.

Verstöße bleiben bisweilen ohne Konsequenzen

Hierfür hat Norbert Alzmann allerdings eine Erklärung: Anträge würden, so hätten es Experten vielfach auf Fachtagungen erläutert, oft monatelang nachverbessert, wenn sie den Kommissionen nicht genehmigungsfähig erscheinen. Manchmal würden Wissenschaftler ihre strittigen Anträge dann auch ganz zurückziehen oder komplett neu stellen. Die Kritik von Tierschützern, dass fast nichts abgelehnt würde, greife deswegen zu kurz.

„Wenn ich mir das Genehmigungsverfahren als Bürger anschaue, finde ich es absolut unbefriedigend, dass es so intransparent abläuft“, sagt Bioethiker Alzmann. Ein ähnlich geheimes Verfahren sei in keinem anderen Bereich, der für die Öffentlichkeit so bedeutsam ist, denkbar. Die Genehmigung von Tierversuchen sei eine „Blackbox“, die bislang keine wirklichen Qualitätskontrollen zulasse.

Auch die Kommissionsmitglieder selbst erführen nach Bearbeitung der Anträge wohl fast nie, ob bei den Tierversuchen letztlich etwas herausgekommen ist. Forscher könnten gegen verweigerte Genehmigungen vor Gericht ziehen, ein Klagerecht für Tierschutzverbände gebe es jedoch nur in manchen Bundesländern. Zudem sei für die Überwachung der Versuchslabore oft eine ganz andere Behörde zuständig, so dass etwaige Verstöße gegen den Tierschutz möglicherweise keine Auswirkungen auf weitere Genehmigungen hätten.

„Große Skandale der letzten Jahre mussten offensichtlich durch Undercover-Reporter aufgedeckt werden“, sagt Alzmann. „Da ist doch irgendwo ein Problem im System.“

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