Unter dem Titel „Standardsprache ist auch nur ein Dialekt“ hat Mariel Bernnat im Rahmen einer Deutsch-Klausur am Gymnasium Remchingen eine Lanze für den Dialekt gebrochen verfasst. Darin legt sie dar, warum „Pforzemer“ und andere „Seckel“ ihre Mundart pflegen sollten. Hier der Kommentar:
„Erdapfel, Herdapfel oder Erdbirne – alles verschiedene Ausdrücke für ein und dieselbe Knolle. Wer so wie ich in Pforzheim und Umgebung aufwächst, wird sich auf allsamstäglichen Marktplätzen auch mit der Bezeichnung ,Grombiere’ konfrontiert sehen. Ich selbst musste zweimal hinhören, bis ich diese Wortschöpfung mit Kartoffeln in Verbindung bringen konnte. So geht es heutzutage vielen jungen Menschen, laut einer repräsentativen Umfrage des Instituts für deutsche Sprache aus dem Jahr 2009, sprechen nur noch rund 50 Prozent der 18- bis 24-Jährigen Dialekt; circa 17 Prozent weniger als die über 60-Jährigen. Das Dialekt-Sterben scheint unaufhaltsam, um diesen tragischen Verlust in seiner Gesamtheit verstehen zu können, müssen erst einmal die Grundlagen geklärt werden.
Deutschland lässt sich in 20 große Dialekträume gliedern, zurückzuführen ist diese vielfältige Entwicklung auf den territorialen ,Flickenteppich’, der das Land der Dichter und Denker vor Napoleon durchzog. Die zweite Lautverschiebung im sechsten und achten Jahrhundert entlang der Benrather-Linie ging diesem Prozess noch voraus und begünstigte ebenso diverse, wie eigentümliche Sprachvarietäten.
Fragt sich, wo das sogenannte Hochdeutsch seine Berechtigung zur Standardsprache her nimmt. Natürlich liegen dem verschiedene gesellschaftliche Prozesse, wie Reformation und deren Niederschlag in der Bibelübersetzung Martin Luthers, zu Grunde, trotzdem fand die Standardisierung dieser ursprünglich im Norden angesiedelten Sprachform relativ willkürlich statt. ,Hochdeutsch’ – was für eine Anmaßung. Als ob ein Dialekt (denn nichts anderes ist unsere Standardsprache) den anderen überlegen wäre.
Nichtsdestotrotz ist der Schul- und Berufsalltag von der Standardsprache geprägt, an meiner Schule steht eine Unterrichtseinheit zum ,Pforzemer Seckel’ zumindest nicht auf dem Lehrplan. Wer im Beruf breites Schwäbisch spricht, ist klar im Nachteil und wird mit negativen Stigmata geradezu bombardiert. Man sei primitiv, eigensinnig und rückwärtsgewandt. Manche haben daraus eine Berufung gemacht, Sprachtrainer wie Matthias Kirbs helfen Opfern beruflicher Diskriminierung beim Erlernen der Standardsprache. ,Der Grasdackel kann mir de Buggel nunner rutsche!’ Wahrscheinlich würde sich unser Ministerpräsident dann doch etwas gewählter ausdrücken, so ähnlich würde er aber wohl auf Kirbs Bemühungen reagieren.
Kretschmann selbst nutzte den schwäbischen Dialekt gezielt als Mittel zur Integration, denn als Flüchtlingskind aus Ostpreußen war ihm die süddeutsche Mundart zunächst fremd. Für ihn bedeutet Dialekt Heimat, Tradition und Zusammengehörigkeit. Goldrichtig, denn nur durch Besonderheiten, die der eigenen Region vorbehalten sind, kann man sich mit seinen Wurzeln identifizieren.
Zuhause, Zukunft und Zusammengehörigkeit – die meisten könne diese Wörter nur schwer in Einklang bringen. Kein Wunder, denn in Zeiten der Globalisierung und Vernetzung von unterschiedlichen Sprachräumen wirken eigentümliche Mundarten als Barrieren. Ich selbst beobachte dieses Phänomen in meinem Umfeld, wo früher Menschen durch einen Satz ihrem Dorf zugeordnet werden konnten, ist es heute schon schwierig, sie semantisch in eine Kommune zu stecken. Der Dialekt wird zum Regiolekt und entbehrt dabei viele seiner charakteristischen Eigenheiten.
,Ich kann (...) keine Sprachpolitik machen.’ – Auch wenn Kretschmann das Dialektsterben zutiefst bedauert, ist ihm klar, dass es nicht so einfach aufzuhalten ist. Diese Problematik beschreibt der renommierte Linguist Rudi Keller mit dem bereits vom Ökonomen Adam Smith verwendeten Bild einer unsichtbaren Hand. Nicht die Politik, sondern wir alle steuern unsere Sprache. Dieses ,wir’ hat sich in den letzten Jahren stark verändert, Migrant*innen haben vermehrt Anteil an unserer Gesellschaft und reiben sich an genau den sprachlichen Begebenheiten, die Kretschmann zur Integration verholfen haben. Wer nicht den regionalen Dialekt spricht, ist als fremd gebrandmarkt, ein Umstand, der der Eingliederung neuer Bürger mehr im Weg steht, als so mancher glaubt.
Dieses Problem habe ich in meinem Freundeskreis nicht. Hier spricht fast keiner mehr Dialekt. Das hat vor allem drei Gründe, auf den Punkt gebracht: Mütter, Mobilität und Medien. Besonders der erste Aspekt sorgt für Verwirrung, wird die andere Sprechweise der ,Generation Z’ doch so gerne auf die Jugendlichen selbst geschoben. Realität ist aber, dass immer weniger Mütter ihren Dialekt an ihre Kinder weitergeben, sei es aus pragmatischen Gründen oder aus schlichtem Unwillen. Gerade bei einem Umzug in einen anderen Dialektraum ist die ursprüngliche Mundart gefährdet. Wer viel reist, muss nämlich Hochdeutsch sprechen und dank unserer schier grenzenlosen Mobilität ist ein wurzelloses Leben attraktiver denn je. Allerdings vernetzten sich junge Menschen nicht nur räumlich, das Dialekt-Sterben hatte in den 1920ern mit der Einführung des Radios seinen Ursprung und wird heutzutage durch Fernsehen und Social Media weitergeführt. Die Tagesschau auf Schwäbisch – undenkbar.
Wer ignorant und vielleicht noch uninformiert genug ist, wir diesen Wandel begrüßen. Dabei haben nostalgische, breit Schwäbisch schwätzende Großeltern, wenn auch mehr aus Zufall als aus wissenschaftlichen Überlegungen, recht. Dialekt ist nicht nur aus Heimats- oder Traditionsgründen wertvoll, er bedingt auch die innere Mehrsprachigkeit. Standarddeutsch und gleichzeitig eine regionale Sprachvarietät drauf zu haben, fördert die Auffassungsgabe und abstraktes Denken, ist also ein Ausdruck der Intelligenz. Die negativen Vorurteile, mit denen so mancher Dialekt behaftet ist, entpuppen sich also als reiner Humbug. Wer hätte schon gedacht, dass ein Sachse potentiell sprachlich begabter ist als ein reiner Hochdeutschsprecher? Zumindest theoretisch ist diese These nicht von der Hand zu weisen.
Doch nicht nur die Intelligenz profitiert von lokal begrenztem Geschwätz, sondern auch unser gesamtheitliches Erbe als Menschheit. Klingt reichlich dick aufgetragen, ist aber eine anerkannte wissenschaftliche Theorie. Laut der Sapir-Whorf-Hypothese geht eine bestimmte Sprechweise mit einer Art zu denken einher. Ein Berliner denkt, arbeitet und löst Probleme anders als ein Bayer, einfach weil er anders spricht. Wenn Dialekte also aussterben, gehen uns ganz konkrete Möglichkeiten verloren, unser Erfahrungsschatz wird geringer. In unseren Mundarten liegt Wissen, das in unser aller Interesse nicht verloren gehen darf.
Bevor Sie jetzt denken, alles wäre verloren, das Kind in den Brunnen gefallen und der Teufel grinse uns von der Wand bereits hämisch an – noch gibt es Hoffnung. Wer hätte gedacht, dass eine Debatte um Dialekt-Förderung mal so pathetisch werden könnte. Der Münchener Sprachwissenschaftler Wolfgang Schulze geht das Problem zum Glück ganz sachlich an und schlägt ,Heimsprache’ als Unterrichtfach vor. So würden im standardisierten Deutschunterricht alle bundesweit auf das gleiche Niveau gebracht, und traditionsbewusste Schüler trotzdem in ihrem Dialekt gefördert werden. Eingeborene, Zugezogene und Migrantenkinder könnten sich mit ihren jeweiligen Sprachwurzeln beschäftigen, um deren Besonderheiten wertschätzen zu lernen.
Leider ist nicht schon übermorgen mit einem solchen Projekt zu rechnen, glücklicherweise leben wir aber in dem wahrscheinlich offensten Bundesland, was solche Vorhaben betrifft. Immerhin wurde der baden-württembergische Slogan ,Wir können alles. Außer Hochdeutsch’ auf Platz eins im bundesweiten Vergleich gewählt. Tatsächlich veranstaltete das Staatsministerium 2018 eine Dialekt-Tagung, nicht um jungen Leuten die Mundart irgendeines Kaffs aufzuzwingen, sondern um Menschen zum Dialektsprechen ohne Diskriminierung zu ermutigen.
,Liebe Pforzemer Seckel’ – klingt ziemlich unprofessionell für einen Einstieg. Das Ziel der Dialektförderung ist es nämlich nicht, das Standarddeutsch abzuschaffen und jeden in seinen Sprachraum zu sperren. Solche Bemühungen wie beim Turmbau zu Babel wären ohnehin zum Scheitern verurteilt. Wenn wir in Zukunft aber noch so viel Sprachbegabung, Heimatgefühl und linguistisches Wissen in Deutschland haben wollen wie im Moment, müssen wir das Dialektsterben verhindern und die traditionellen Mundarten in die Gegenwart führen. Das funktioniert nur freiwillig und als Kollektiv, deswegen muss sich jede*r selbst für seinen oder ihren Dialekt entscheiden.
Wenn Ihnen der Gemüseverkäufer auf dem Messplatz also ungeniert Schwäbisch schwätzend ein Pfund gelbe Rüben verkauft, dann glotzen sie ihn nicht deppert an, sondern nehmen gleich noch einen Sack Grombiere dazu!“