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Tausende Menschen sterben jedes Jahr im Mittelmeer

Ehemaliger Bootsflüchtling Phuc Huynh: „Es ist unsere Pflicht zu helfen“

Sein Leben verdankt er der „Cap Anamur“: Phuc Huynh aus Regensburg ist dankbar für die zweite Chance und appelliert an Europa, bei den heutigen „Boatpeople“ im Mittelmeer nicht wegzusehen.

Phuc Huyhn
Hat die Flüchtlingskatastrophe im Südchinesischen Meer überlebt: der Regensburger Unternehmer Phuc Huyhn. Foto: Huynh

Phuc Huynh war drei Jahre alt, als er in das Boot stieg, das ihn entweder in die Freiheit oder in den Tod führen würde. Auf der Flucht vor dem kommunistischen Regime in Vietnam fuhr er im Jahr 1980 mit seiner Familie aufs offene Meer hinaus und hatte Glück: Die „Cap Anamur“ war zur Stelle und sammelte die Flüchtlinge ein.

Junge auf der „Cap Anamur“.
Gerettet: Phuc Huynh als Dreijähriger an Bord der „Cap Anamur“. Foto: Huynh

Die Familie kam ins Allgäu, wo sie sich eine neue Existenz aufbaute. Im Interview erzählt der Regensburger Unternehmer, warum er sich heute selbst in der Flüchtlingshilfe engagiert – und warum die Integration der Boatpeople in Deutschland seiner Meinung nach so gut gelungen ist.

Herr Huynh, Sie engagieren sich für Flüchtlinge aus der Ukraine und für Bootsflüchtlinge im Mittelmeer. Welche Rolle spielt dabei Ihre eigene Biografie?
Phuc Huynh

Ich bin mir völlig dessen bewusst, was Deutschland mir und meiner Familie ermöglicht hat. Wir haben hier eine zweite Chance bekommen, eine Riesenchance. Für mich ist es wichtig, der Gesellschaft etwas zurückzugeben. Außerdem hasse ich den Krieg. Das Schlimme an Kriegen ist, dass es immer die Schwächsten der Gesellschaft trifft, die Älteren, die Armen oder Kinder.

Sie selbst waren ja auch ein Kind, als Sie mit Ihrer Familie aus Südvietnam geflüchtet sind ...
Phuc Huynh

Ich war dreieinhalb Jahre alt. An die Flucht kann ich mich deshalb nicht erinnern. Aber ich weiß alles darüber aus den Erzählungen meiner Eltern.

Warum ist Ihre Familie geflüchtet?
Phuc Huynh

Meine Familie stammt aus Tra Vinh in Südvietnam, wir waren relativ wohlhabend, hatten Ländereien und mein Vater war beim Militär. Als der Süden den Krieg gegen den Norden verloren hatte, wurden die Südvietnamesen enteignet und Menschen wie mein Vater mussten ins Umerziehungslager. Wir hatten als Familie keine Perspektive. Man muss sich überlegen: Die Chance, von der „Cap Anamur“ aufgefischt zu werden, war gering. Was bringt Menschen wie meinen Vater dazu, den Entschluss zu fassen, lieber auf der Flucht zu sterben als in dem System weiterzuleben? Das war schon eine große Entscheidung. Die meisten Boatpeople haben sie für ihre Kinder getroffen. Sie sollten eine Perspektive für die Zukunft haben.

Was hat Ihre Familie auf der Flucht erlebt?
Phuc Huynh

Meine Eltern hatten ihre Gold- und Dollarreserven in unsere Kinderkleider eingenäht. Wir wurden dann von einem Militärschiff der Vietcong (kommunistische Vietnamesen) abgefangen. Sie haben uns alles genommen, was wir noch hatten, und uns wieder zur Küste geschleppt. Mein Vater wurde dabei angeschossen. Dennoch waren wir froh, dass sie uns nur überfallen haben, denn auf vielen Booten wurden die Frauen vergewaltigt, sogar kleine Mädchen. Als es dunkel war, sind wir wieder rausgefahren aufs Meer.

Wie lange waren Sie auf dem offenen Meer unterwegs?
Phuc Huynh

Mehrere Tage. Irgendwann sind uns die Wasserreserven ausgegangen. Die Leute haben dann Regenwasser gesammelt und sogar ihren Urin getrunken. Wir hatten aber Glück: Es ist an Bord niemand gestorben. Irgendwann haben wir in der Nacht Positionslichter eines Schiffes gesehen. Da war erst einmal Panik an Bord, weil alle dachten, das sind wieder Piraten. Doch dann hat sich die „Cap Anamur“ durch ihre Flutscheinwerfer zu erkennen gegeben.

Wie ist es danach weitergegangen?
Phuc Huynh

Zuerst waren wir im Flüchtlingsheim in München, später kamen wir ins Allgäu. Dort war es wunderschön. Ich habe Kindheitserinnerungen wie Heidi auf der Alm.

Sehen Sie sich als Deutscher oder als Vietnamese?
Phuc Huynh

Sie hören ja, dass ich einen bayerischen Akzent habe. Meine Gedanken sind deutsch, mir ist überhaupt nicht bewusst, dass ich Vietnamese bin – es sei denn, ich schaue in den Spiegel. Vielleicht könnte man mich als Deutschen mit asiatischen Tugenden beschreiben.

Die Integration der Boatpeople in Deutschland wird häufig als Erfolgsgeschichte beschrieben. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Phuc Huynh

Ich denke, ein Erfolgsfaktor der vietnamesischen Integration ist, dass wir viel Wert auf Bildung legen. Es ist in einer vietnamesischen Familie normal, dass die Eltern mehrere Jobs haben, damit das Kind nicht nur das Gymnasium besuchen, sondern auch Nachhilfeunterricht bekommen kann. Das ganze Kollektiv hält dafür zusammen, sogar Onkel, Tanten und ältere Geschwister unterstützen finanziell bei Schule und Studium. Die meisten meiner vietnamesischen Bekannten haben deshalb studiert. Ein zweiter Erfolgsfaktor ist, dass in der vietnamesischen Kultur Dankbarkeit und Demut als hohe Tugenden verankert sind. Wir Boatpeople wollten unsere zweite Chance nutzen, haben sie aber nie als selbstverständlich angesehen. Meine Eltern haben uns beigebracht, dass wir in Deutschland Gäste sind und uns auch so benehmen sollen. Das war das Leitbild unserer Integration.

Sie und Ihre Familie verdanken Ihr Leben dem Engagement des „Cap-Anamur“-Gründers Rupert Neudeck. Sind Sie ihm einmal begegnet?
Phuc Huynh

Leider nicht, obwohl das mein großes Ziel war. Es tat mir sehr leid, dass er sich noch zu Lebzeiten gegen Vorwürfe wegen Schlepperei wehren musste. Dafür, dass dieser Mensch so viel geleistet hat, war das sehr unschön.

Seenotretter sehen sich immer wieder Kritik und sogar Gerichtsprozessen ausgesetzt. Warum halten Sie ihre Arbeit für unterstützenswert?
Phuc Huynh

Ich unterstütze die Organisation „Sea-Eye“ und bin mit dem Gründer, Michael Buschheuer, befreundet. Meine Meinung ist: Wir sprechen immer über Europa als Wirtschaftszone, aber wir sollten auch eine moralische Zone sein. Es kann doch nicht sein, dass wir vor unserer Haustür Menschen ertrinken lassen. Ich halte es für unsere moralische und europäische Pflicht, zu helfen und nicht tatenlos zuzuschauen.

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